Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
flinken Beine bei der ständigen Flucht vor Cops erworben. Eines Tages drang er in einen Sportclub ein und bewies seine Windhundschnelligkeit, ehe man ihn hinauswerfen konnte. Damit hatte er sich eine Chance eröffnet, die er für Siege gegen College-Kids nutzte, bis sein Name schließlich auf immer wichtigeren Anzeigetafeln aufleuchtete.
Bei den Amerikanischen Jugendspielen wollte er diese Position festigen: für die Fans ein brillanter neuer Läufer, für die Reporter ein glorreiches Beispiel der nivellierenden Kraft des Sports. Das einzige Problem war seine Neigung zu absurden Handlungen, die fast schon an Irrsinn grenzten.
In der Schulzeit hatte ich zwar mit Richard Tennis gespielt, bis er mir nach dem Training mit einem ehemaligen Wimbledon-Finalisten enteilte, aber eigentlich war ich nie ein großer Sportfan gewesen. Dad nahm mich einmal zu einem Fußballspiel in Cambridge mit, aber die Partie war so schwach, dass wir nie wieder hingingen. Außerdem fand ich bei vielen Angelausflügen Gefallen an der Einsamkeit, und das dämpfte meine Begeisterung für Teamsportarten. Über Bruce’ Bahnkreuzaktion war ich nur zufällig beim Zappen gestolpert. Ab da folgte ich allerdings jedem unberechenbaren Schritt seiner Karriere, weil mich sein Verhalten und dessen mögliche Ursachen faszinierten. Der triumphierende, aber zugleich gehetzte Ausdruck in seinen Augen, der auf den Filmausschnitten zu erkennen war, weckte in mir das Verlangen nach einem Blick in seinen Kopf. Bruce war nicht besonders eloquent und gab nur wenige Interviews, aber bei einem seiner seltenen, kurzen Fernsehauftritte nannte er einen geheimnisvollen Mann namens Michael Streissman, der, so behauptete er, »mir gesagt hat, was ich tun soll«. Angeblich war es Streissmans Idee gewesen, die anderen Sprinter von der Bahn zu rempeln; er stand an der Seitenlinie und wies Bruce an, im Startblock zu bleiben oder nur einen Teil der Strecke zurückzulegen; und von ihm stammte auch die Idee zu Bruce’ Kunststück, einen Löffel und ein Ei aus der Tasche zu ziehen und diese während des Laufs schwankend zu balancieren. Nachdem ich über diese bruchstückhaften Informationen oder Falschinformationen nachgegrübelt hatte, stellte ich drei Hypothesen auf:
Streissman hatte Gründe, Bruce’ sportliche Auftritte zu stören, und hielt Bruce vielleicht mit Drohungen davon ab, mehr als bloße Anspielungen über ihn zu machen.
Streissman übte einen Einfluss aus, den Webster Bruce entweder stark übertrieb, um eine Ausrede zu haben, oder für sich falsch deutete.
Streissman existierte nicht.
Obwohl es nicht unbedingt üblich ist, dass ein Psychiater einem Patienten nachjagt wie ein Fußballtrainer einem Spieler, überlegte ich mir tatsächlich, wie ich Bruce Webster treffen könnte. Ich besuchte Leichtathletikveranstaltungen, wo er startete, und trieb mich wie ein schäbiger Voyeur in der Nähe der Umkleidekabinen herum. Schließlich wurde ich seinem Trainer Frank Macguire vorgestellt. Ich bot ihm eine kostenlose Konsultation für Bruce an – ich schlug sogar vor, seinen Flug nach Chicago zu bezahlen, falls das half. Macguire, den schon lange die Sorge quälte, dass Bruce seine Chance bei den Jugendspielen versieben und damit die ganze in ihn investierte Arbeit zunichtemachen könnte, erklärte sich bereit, seinem Schützling die Sache vorzulegen, obwohl er nicht mit dessen Kooperation rechnete. Doch zu seiner Überraschung begeisterte sich Webster anscheinend fast genauso für meinen Vorschlag wie ich. Besser hätten die Voraussetzungen gar nicht sein können.
Bruce, Webster
geboren 1973 in New York
drittes von fünf Kindern
jüngerer Bruder Aaron stirbt bei Unfall zu Hause
Verschlechterung der Beziehung zwischen Mutter und Vater
schwänzt schon ab sechs Jahren regelmäßig die Schule
fordert weiße Jungen gegen Geld zu Straßenrennen heraus; gewinnt 350 Dollar
festigt Ruf als »schnellster Junge der Bronx«
Eltern streiten über WB s lange Abwesenheiten; Mutter macht Vater schwere Vorwürfe
Vater begeht im Februar 1983 Selbstmord
Mutter erleidet mehrere Nervenzusammenbrüche
bestreitet einen Tag lang Rennen und gewinnt 750 Dollar, um Brüder und Schwestern zu unterstützen; verliert das achtzehnte Rennen in Folge gegen Zweiundzwanzigjährigen, beschädigt Auto des Siegers, entkommt Polizei mit Drei-Kilometer-Lauf
wieder daheim erfährt er, dass Mutter im »Irrenhaus« ist
Kinder auf Pflegefamilien und -heime aufgeteilt
WB in Kennedy-Onassis-Heim für Benachteiligte
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