Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Gefühl, mich so zu lieben, gewissermaßen.« Trotz Dads versteinerter Miene klangen seine Sätze wie aus einem Hollywood-Drehbuch. Das Wort »lieben« kündigte sich unbeholfen an wie ein Prominenter mit skandalöser Vergangenheit. Jetzt musste mich Dad nur noch auffordern, Mum keine Vorwürfe zu machen, und die Szene war im Kasten.
Stattdessen holte er tief Atem und rechtfertigte sich gegen einen vermeintlichen Kritiker. »Aber ich würde sagen, dass du dieses Gefühl haben solltest , weil ich mich ziemlich gut geschlagen habe. Und wenn du jemandem die Schuld geben willst, dann am ehesten allen. Jetzt kennst du die ganze Geschichte. Ich hab nur versucht, danach das Beste draus zu machen.«
Das war alles. Für Dads Maßstäbe war es eine lange Rede. Ich hörte förmlich, wie hinter ihm die seichte Filmmusik anschwoll, um die feste Umarmung zweier Männer zu unterstreichen, die durch die Wahrheit getrennt und nun vereint worden waren. In Wirklichkeit hofften wir beide, der andere möge irgendetwas sagen oder tun, und es trat eine matte Stille ein. Dann folgte auf ein leises Zischen im Hintergrund ein mechanisches Jaulen, als in der Küche der Rauchmelder anschlug. Das erste Wort meines Dads nach seiner großen Enthüllung war ein geknurrter Kraftausdruck, mit dem er aufsprang und in die Küche lief, um schlimmeren Schaden abzuwenden.
Wie entwickelte sich das Verhältnis zwischen mir und dem Mann, der mir seinen Nachnamen und seine Ideen, nicht aber seine Gene vererbt hatte? In den zwei Jahren, die uns noch blieben, blieb das meiste beim Alten. Dad (wie ich ihn weiter nannte, weil ich nicht anders wollte und konnte) hatte recht: In fast jeder wesentlichen Hinsicht war er mein Vater gewesen und ich sein Sohn. In gewisser Weise waren die letzten fünfundzwanzig gemeinsamen Monate sogar eine Zeit erfrischender Offenheit und Klarheit. Jede Frage, die ich je nach meiner oder der Vergangenheit meiner Eltern hatte stellen wollen, konnte nun freimütig angesprochen werden. Die Wahrheiten, von denen ich nach Mums Tod erfuhr, stießen das Tor zur Scheune nicht nur auf, sondern rissen es aus den Angeln und wirbelten alles darin durcheinander. Aber selbst diese Bombe konnte nicht das künstliche Band zwischen Vater und Sohn zerstören, das sich ein ganzes Leben lang verfestigt hatte. Stattdessen wurde es mit echter Objektivität vergoldet. Wir sprachen über persönliche Angelegenheiten wie Gleichaltrige. Einzelheiten des Hirst-Falles, die mir ein Rätsel geblieben waren, wurden endlich geklärt; halb erinnerte Vorfälle aus meiner frühen Kindheit nahmen Gestalt und Bedeutung an.
Und rein objektiv betrachtet, bewunderte ich ihn als Robert Kristal noch mehr denn als Dad, weil sich die Fesseln der Pflicht und Gewohnheit zumindest gelockert hatten. Was dabei zum Vorschein kam, waren die unendliche Geduld, das Verständnis und die Hingabe dieses Menschen. Wie ein Mann, der lieb gewordene Überzeugungen gegen den größeren Ertrag eines neu erwachten Glaubens eintauscht, »entdeckte« ich Dad von Neuem, und diese Entwicklung erwies sich für uns beide als Bereicherung. Als sein belagerter Körper im letzten Jahr erste Zeichen sandte, dass er den kommenden Winter wohl nicht überstehen würde, vollzogen wir den natürlichen Wechsel, der aus dem Sohn den Betreuer seines gebrechlichen Vaters macht, müheloser als viele andere. Das Wissen um seine früheren Opfer machte es mir leicht, mich seiner anzunehmen. Er hatte nie das Gefühl, nur noch nutzlos zu sein, ein Gefühl, das – bei den einen unbewusst, bei den anderen überdeutlich – den Tod so manches Patienten auf Dads Krankenhausstation beschleunigte. Dad und ich blieben verschworene Verbündete, bis wenige Wochen nach Beginn des Jahres 1991 das Patt zwischen Körper und Geist zerbrach.
Als sein Tod immer näher rückte, deutete sich bei mir eine gewisse Erleichterung an. Diesmal hatte ich mein Versprechen gehalten, nichts ungesagt und ungetan zu lassen. Zugegebenermaßen hatte erst der Tod des einen Elternteils dafür gesorgt, dass ich meine Schulden beim anderen beglich, aber ein halber Abschluss ist mehr, als den meisten Menschen vergönnt ist. Wir erlebten sogar eine kleine Totenbettszene, als Dad in seiner letzten Stunde mit der für ihn üblichen Mischung aus Zufriedenheit und Bedauern auf sein Leben zurückblickte. »Weißt du, Pete, diese ganze Angelegenheit mit deiner Mutter – ich hatte eigentlich nie vor, daraus so ein Riesengeheimnis zu machen.« Eine Hustensalve
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