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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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Frage war nun, wie man die Stimme zum Schweigen bringen, wie man den phantasmagorischen Besucher vertreiben konnte, ohne das Bewusstsein zu beschädigen, das er bewohnte und behinderte.
    Schritt für Schritt ging ich mit Webster die Geschichte seiner angeblichen Beziehung zu Streissman durch, um abschätzen zu können, in welchem Ausmaß der unsichtbare Mentor ihn beherrschte. Hatte Streissman ihn je aufgefordert, das Laufen völlig aufzugeben? »Ja.« Wie oft? »Die ganze Zeit.« Zögern, sein Blick schien sich auf sechs Punkte gleichzeitig zu richten. »Wenn ich gewinne, ist er ruhig und sagt zuerst nichts, dann fängt er wieder an – Und was kommt als Nächstes? Glaubst du, du bist schnell? Für einen Schwarzen bist du ziemlich langsam. Wenn ich zehn-zwei laufe, meint er, du musst zehn schaffen. Wenn ich zehn laufe, meint er, du musst neun-fünfundneunzig schaffen, immer noch zu langsam, ach, gib’s doch auf. Wie ein durchgeknallter Trainer.«
    »Und diese Aussetzer …?«
    »Manchmal sagt er bloß, lauf das Rennen nicht. Tu dies, tu das. Stoß die Leute weg, mach was Blödes, irgendwas. Und ich muss es machen.«
    »Warum?«
    Webster zuckte die Achseln. »Ich mach immer, was er sagt.«
    »Aber warum?«
    Schweigen. Plötzlich verlor Webster das Interesse an dem Thema. Mürrisch starrte er auf den Goldring an einem langen Finger und schaute gelegentlich mit kindischem Trotz in den Augen auf, um zu signalisieren, dass für den nächsten Zug ich zuständig war.
    »Was würdest du tun«, fragte ich ruhig, »wenn dich Streissman auffordern würde, was wirklich … Blödes und Gefährliches zu machen?«
    Webster funkelte mich verächtlich an, und um zu kontern, hielt ich seinen Blick fest. Die Unerschütterlichkeit bei solchen Glotzwettbewerben ist eine meiner zuverlässigsten Waffen. Ich hatte schon störrische Patienten niedergestarrt, als er noch in den Windeln gelegen hatte.
    Er wetzte auf seinem Stuhl hin und her. »Was soll das heißen, blöd und gefährlich? Blöder und gefährlicher als dort, wo er mir gesagt hat, ich soll das Schaufenster einschlagen und sechs Blocks weit vor den Bullen davonlaufen?«
    »Ich meine blöd und gefährlich in dem Sinn, dass du dir selbst Schaden zufügst.«
    Erneut zuckte er die Achseln.
    Ich übernahm die Initiative. »Dann muss ich dir eine Behandlung empfehlen.«
    Ich schickte ihn mit einem Rezept weg, mit dem ich ungefähr so viel Hoffnung verband wie mit einer Flaschenpost. Selbst wenn Webster nach Hause kam, ohne es zu verlieren oder wegzuwerfen, war es eher unwahrscheinlich, dass er sich die Mühe machen würde, das Medikament zu besorgen, und selbst wenn er den Weg in eine Apotheke fand, hatte ich meine Zweifel, ob es nicht im Medizinschrank verstauben würde. Ich hatte ihm ein Neuroleptikum verschrieben, das die Übertragung von Dopamin 21 – eine anerkannte Ursache von Schizophrenie – begrenzte. Die Sache hatte allerdings einen Haken. Wenn er es nahm, war mit Nebenwirkungen zu rechnen, die nicht klinischer, sondern beruflicher Natur waren: Solange die Behandlung lief, konnte er kein Rennen bestreiten, weil das Medikament mehrere Substanzen enthielt, die verboten waren, seitdem nach den Betrugsskandalen der Achtziger umfassende Restriktionen gegen chemische Wirkstoffe verhängt worden waren. Um die Tabletten gegen die schizophrenen Stimmen nehmen zu können, musste sich Webster erstens eingestehen, dass er eine Behandlung benötigte, und er musste sich zweitens damit abfinden, mehrere Monate lang bei keinem offiziellen Wettkampf anzutreten. Nur wenn das Medikament seine Wirkung entfaltet hatte, konnten wir es rechtzeitig vor den Jugendspielen absetzen.
    Diese Umstände erklärte ich Webster, der mir mit leerem Gesicht zuhörte, und seinem Trainer Frank Macguire in einem Begleitschreiben. Dieses zumindest wurde erfolgreich übergeben. Macguire, ein leutseliger Mensch, bedankte sich telefonisch für meine Hilfe und versprach, allerdings ohne große Zuversicht, Webster zur Einnahme des Medikaments anzuhalten. »Keiner kennt ihn so gut wie ich«, bemerkte er trocken, »und ich habe keine Ahnung, was er im nächsten Moment macht. Ich bin sein Trainer, und vor den meisten Rennen weiß ich nicht mal, ob er die Distanz laufen, schwimmen oder skaten wird, also …«
    Also begnügte ich mit meiner kleinen Rolle in Websters Geschichte und freute mich schon darauf, den Leuten zu erzählen, dass ich ihn behandelt hatte, wenn er in vier Jahren olympisches Gold gewann und nicht zur

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