Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Klagen machte mir Psychotherapie mehr Spaß als irgendwelche Freizeitbeschäftigungen. Angesichts dieser letzten, tröstlichen Erkenntnis zog ein zufriedenes Lächeln über mein Gesicht, das die Schwimmerin zu Unrecht als anzüglich deutete: Mit einer Grimasse stemmte sie sich aus dem Becken, dann trippelte sie in ein Handtuch gehüllt davon, nicht ohne mir über die Schulter noch einen kurzen, verächtlichen Blick zuzuwerfen.
Die Veranstalter der Spiele kamen für meine Hotel- und weitere Kosten auf. Ich setzte meine Beratungszeiten so an, dass es keine Überschneidungen mit Websters Läufen gab, und begann mit den Sitzungen. Die meisten Athleten wollten einfach nur über den Erwartungsdruck reden (den der Trainer, der Eltern, ihren eigenen) oder sich über die straffen Sicherheitsvorkehrungen beklagen. Ein Weitspringer erkundigte sich sarkastisch, ob ich ihm eine Urinprobe abnehmen wollte. Ein Volleyballer fragte mich nach Möglichkeiten zur Verbesserung seiner Technik am Netz. Verglichen mit meinem üblichen Trott hatten die Sorgen dieser Patienten etwas erfrischend Reines, oder vielleicht ließen sie sich bloß leichter helfen und waren dankbarer. Jedenfalls kam ich mir wirklich nützlich vor.
Websters erstes Rennen war am Dienstagnachmittag; nach einem kurzen Gespräch mit ihm am Morgen strebte ich mit klopfendem Herzen zur Arena. Unsere Konsultation war nicht ganz glücklich verlaufen. Webster war still und distanziert, und weder Frank Macguire noch ich konnten ihn zu Äußerungen bewegen, die uns beruhigt hätten. Macguire gestand mir, dass ihn Albträume plagten, in denen Webster vor dem Wettkampf verschwand oder sich mit einer seiner exzentrischen Einlagen alles vermasselte. Ich wusste nicht so recht, ob ich Streissman erwähnen sollte. Allein schon die suggestive Kraft des Namens konnte die Tür öffnen für einen Feind, der andernfalls vergessen geblieben wäre.
Ich ging das Risiko ein. »Und, hast du wieder mal mit Streissman gesprochen?«
Ähnlich wie bei der Schwimmerin lief ein abschätziges Flackern über Websters Gesicht. »Hat keinen Sinn, über den zu reden.«
Damit mussten wir uns zufriedengeben. Wenigstens waren keine physischen Entzugserscheinungen zu beobachten. Meine zweitschlimmste Furcht war, dass seine Leistung in dieser Woche von irgendeiner Nebenwirkung eingeschränkt wurde, die ich nicht vorhergesehen hatte. Die schlimmste Angst behielt ich mir für bizarre und absolut unwahrscheinliche Szenarien vor – Webster vergiftete sich aus Versehen selbst, er verkündete seine jüngst vollzogene Geschlechtsumwandlung, oder er gab das Ganze aus einer Laune heraus auf –, um nicht von den Ereignissen überrumpelt zu werden, falls er wieder mal aus der Reihe tanzte. Das war ein schwaches Sicherheitsnetz, und als die Läufer an der Startlinie herumtrabten, fühlte ich mich kribbelig und hilflos und konnte den Blick nicht abwenden von dem schlaksigen Burschen auf der vierten Bahn, der sich mit leichten Übungen vorsichtig aufwärmte. Wie es für Macguire sein musste, der gleichzeitig zigaretterauchend und kaugummikauend dasaß, das zerklüftete Gesicht halb verdeckt von dem riesigen Schirm einer Baseballmütze, wollte ich mir gar nicht ausmalen. Dann kauerten sich die Sprinter in die Blöcke, der Schuss krachte, und ein Gewirr aus Gliedmaßen wirbelte über die Strecke. Lange Zeit schien kein Zentimeter zwischen ihnen zu liegen, dann, in den letzten drei Sekunden, ließ Webster das Feld hinter sich und stürzte über die Ziellinie, ehe er weich wie ein teures Auto abbremste und den einen Arm ein wenig hob, um seinen lockeren Sieg zu würdigen. Um uns herum jubelten Menschen; Fotografen knipsten; Macguire nickte gleichmütig, als hätte er fest mit diesem Ausgang gerechnet, und Webster joggte mit einem strahlenden, aber leeren Lächeln auf dem Gesicht zu uns herüber. Er hatte sein erstes Rennen als geheilter Schizophrener gewonnen, und nur noch ein gelungener Lauf trennte ihn vom Finale. In dieser Nacht schlief ich tief und fest.
Am Tag darauf klopfte es schüchtern an meiner Tür, und hereinkam die attraktive Schwimmerin, die sich über meinen vermeintlichen Voyeurismus geärgert hatte. Ich sah mich bereits mit dem Vorwurf sexueller Belästigung konfrontiert, und mein Herz setzte kurz aus. Stammelnd versuchte ich mich zu rechtfertigen.
»Ach, das ist es nicht.« Sie wirkte amüsiert. »Ich dachte sowieso nicht, dass Sie mich beobachten. Ich mag es bloß generell nicht, wenn mich jemand
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