Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
Vom Netzwerk:
verursachte Gefahr am Horizont im Blick hatte, ohne voll darauf zu vertrauen, ihr entrinnen zu können, so wie er vor Jahren mit seinen Sprintqualitäten den New Yorker Polizisten entronnen war. Diesmal signalisierte Websters Körpersprache Unsicherheit, weil die magische Wirkung der Tabletten abgeklungen war. Seine Hände zitterten am Glas, und er zupfte an seinen Kleidern und Haaren wie bei unserem ersten Treffen.
    In einem gemeinsamen Gespräch mit ihm und Macguire erklärte ich, dass ich aus fachlicher Sicht einer Teilnahme Websters an den Jugendspielen nicht zustimmen konnte, solange seine völlige Heilung nicht feststand, dass es mir jedoch nicht zukam, Karriereentscheidungen für ihn zu treffen. »Ob er läuft«, schloss ich, »liegt letztlich ganz allein bei Webster.« Das war zugleich feige und unüberlegt. Wenn die geistige Gesundheit eines Menschen in Gefahr war, kam mir ein Eingreifen sehr wohl zu. Ich hätte ihn dazu bewegen können, seine Teilnahme an den Spielen abzusagen. Sicher hätte er dann noch etwas länger auf den großen Durchbruch warten müssen, aber es wäre eine verantwortungsvolle Vorgehensweise gewesen. Doch vielleicht hatte ich einfach die Nase voll vom Berufsethos. Jedenfalls traf Webster die in seinen Augen einzig sinnvolle Entscheidung: bei den Spielen anzutreten und ansonsten auf sein Glück zu vertrauen.
    »Wenn ich was Blödes mache«, meinte er, »dann bin ich wenigstens dort, verdammt, und nicht zu Hause.«
    Und ich war natürlich auch dort.
    Ich nahm mir eine Woche frei und flog nach Florida, wo die Veranstaltung stattfand. Glühend heiß knallte die Sonne auf die rote Tartanbahn, als mir Webster die Anlage zeigte, wo er in den nächsten Tagen drei für seine Karriere entscheidende Rennen bestreiten sollte. Um das Stadion boten die eleganten weißen Backsteinbauten eines Universitätscampus den Athleten ein eigenes kleines olympisches Dorf, siebentausend Kilometer entfernt von Barcelona, wo in diesem Sommer die richtigen Spiele ausgetragen wurden. Nach weiteren vier Jahren würde Websters Generation ihre Chance bekommen. Wer sich bei den Jugendspielen auszeichnete, wurde in ein Förderprogramm aufgenommen und auf die nächsten olympischen Wettkämpfe vorbereitet, wo der Gipfel des sportlichen Ruhms winkte. Wer die Gelegenheit zum Glänzen verpasste und nicht für das Programm ausgewählt wurde, musste einen steinigeren Weg beschreiten und praktisch ohne Sponsoren und offizielle Unterstützung in einem immer breiteren Feld von sich abstrampelnden Konkurrenten auf den Durchbruch hoffen. Die Atmosphäre um die Sportarena war erfüllt von verzweifelter Hoffnung, Spannung und Gerüchten; jedes Lächeln wirkte angestrengt, in jeder Unterhaltung gärte unausgesprochene Rivalität; überall schwirrten Trainer herum und überwachten die Ess-, Trink- und wahrscheinlich auch Verdauungsvorgänge ihrer Schützlinge. Jeder Abend brachte ein Gewitter, nach dem sich die stickige Luft kurz aufklärte, ehe sie wieder ihre schwüle Schwere aufbaute. Es war wie ein Mikroklima, speziell für die Spiele arrangiert, vielleicht von einer der sechzehn Sponsorenfirmen, deren allgegenwärtige, lukrative Werbeverträge verheißende Namen den Druck noch weiter erhöhten. Auch das kommerzielle Kitschspektakel der Eröffnungsfeier konnte nicht das Gefühl zerstreuen, dass es (wie es so schön heißt) nur eine Frage der Zeit war, bis jemand zusammenbrach.
    Als der Leiter des Organisationskomitees von meiner Anwesenheit erfuhr, fragte er bei mir an, ob ich vielleicht täglich eine offene Beratung für Athleten mit Problemen durchführen konnte. Um den Bitten um psychologische Unterstützung seitens der Wettkämpfer Rechnung zu tragen, hatte man eigens die Stelle eines »Spielepsychiaters« geschaffen. Mein Instinkt riet mir, mir nicht noch mehr ehrenamtliche Arbeit aufzuhalsen und mich stattdessen ein wenig auszuruhen, doch nach einer Viertelstunde am Pool, in der ich versuchte, die Mittagssonne zu genießen, änderte ich meine Meinung. Als ich eine sehnige junge Sportlerin beobachtete, die geräuschvoll ihre Bahnen durchs Wasser zog und den Kopf hin und her warf, wurden mir einige Dinge klar: Je mehr ich mein Gehirn anspannte, desto weniger musste ich damit rechnen, dass es von selbst auf den Abgrund der Vergangenheit zusteuerte; auch wenn sie in gewisser Weise Glück hatten – die Athleten, die sich unter dem logoübersäten Banner der Jugend abquälten, verdienten einen gewissen Schutz; und trotz aller

Weitere Kostenlose Bücher