Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
ansieht. Dann fühle ich mich hässlich.«
Sie war fünfzehn oder sechzehn, klein und blond. Ihre Ungezwungenheit stand im Widerspruch zu einer gewissen Rastlosigkeit. Ich forderte sie auf, Platz zu nehmen.
Das Mädchen stellte sich als Kirsty Reid vor und berichtete, dass sie für das Tennisturnier angemeldet war. Das war eine Untertreibung: Sie war eine der besten drei amerikanischen Spielerinnen unter sechzehn und konnte damit rechnen, in den nächsten zwei Jahren den Wechsel zu den Profis zu schaffen. Der offizielle Führer der Spiele, der aufgeschlagen auf meinem Schreibtisch lag, bot in stark kondensierter Form, die von mir hätte stammen können, einen Überblick über ihre wesentlichen Lebensdaten:
KIRSTY REID geboren Kansas City 8.8.76
Sportart Tennis (Rang 2)
Sponsoren Nike, Budweiser, Calvin Klein
Liebt Reiten, Pizza, Ferien, Michael Jackson
Hasst Verlieren, Intoleranz
Zitat »Wann kann ich endlich loslegen?«
»Diese Informationen haben sie alle von meinen Eltern. Ich war nicht zu Hause, als sie angerufen haben.« Kirsty erschauerte beim Anblick des Fotos, das sie mit einem hölzernen Lächeln beim Hochheben eines Pokals zeigte. »Und ›Intoleranz‹ … ich glaube, das haben die Organisatoren reingesetzt.«
»Kannst du ein genaueres Bild von dir zeichnen?«, fragte ich.
Sie drehte den Hochglanzprospekt zu sich und blätterte, bis sie auf einen anderen Eintrag stieß. Das Foto zeigte eine hochgewachsene junge Frau mit bronzefarbener Haut in adretter weißer Kleidung, die ihren Schläger schwang wie in einem Trainingslehrbuch.
Seufzend schob Kirsty mir die Broschüre wieder zu. »Sie müssen nur wissen, dass ich im Finale wahrscheinlich gegen sie spielen muss.«
LOLA VERDINI geboren Long Island 24.4.76
Sportart Tennis (Rang 1)
Sponsoren Nike, Budweiser, Calvin Klein, TDK , American Airlines
Liebt Tennis, Lesen, Musik, Tanzen, Reisen, Natur, Ausgehen, Filme, andere Kulturen kennenlernen
Hasst Grünes Gemüse, Einschränkungen der Meinungsfreiheit
Zitat »Egal, wer gewinnt, die Amerikanischen Jugendspiele sind eine tolle Gelegenheit für uns alle.«
Lola und Kirsty – das archetypische Beispiel eines aus Vergleich und Konkurrenz entstandenen Minderwertigkeitskomplexes: mein altes Spezialgebiet in einer Neuauflage der Neunzigerjahre. Zwei herausragende junge Tennisspielerinnen, die immer wieder bei öffentlichen Juniorenwettkämpfen aufeinanderprallten wie Gladiatorinnen und deren Spiele von scharfäugigen Experten und unwissenden Eltern kritisch zerpflückt wurden; so dicht am Spielfeldrand standen die Beobachter, erzählte Kirsty, dass sie manchmal Lust hatte, einem von ihnen ihren Schläger in die Hand zu drücken und ihn aufzufordern, er möge es doch besser machen. Die beiden spielten in einer anderen Liga als die meisten Gleichaltrigen und trafen überall im Endstadium von Wettkämpfen aufeinander: Key Biscayne, Des Moines, Las Vegas. Dabei wurden gnadenlos Technik, Stärken und (nach Kirstys Meinung) Aussehen verglichen und einander gegenübergestellt. Ein vertrautes Thema, hier noch verschärft durch den atemlosen Zeitfaktor im Juniorentennis – schon mit sechzehn werden einige zu Profis, und jenseits der fünfundzwanzig sind sie am Ende – sowie durch eine grausame Laune der offiziellen Rahmenbedingungen. Die beiden waren vierzehnmal gegeneinander angetreten; Lola hatte alle Partien für sich entschieden.
»Es wäre ja gar nicht so schlimm, wenn es nur um Tennis ginge.« Anscheinend hatte Kirsty bemerkt, dass meine Augen bei der Aussicht auf sportliche Rivalität aufleuchteten. »Es ist einfach alles. Ich meine, sehen Sie sich mal ihr Profil an. Das geborene Goldmädchen. ›Andere Kulturen kennenlernen‹?« Sie lachte mit fast liebevoller Verzweiflung. »Sie ist unglaublich.«
»Bist du mit ihr befreundet?«
»Eigentlich nicht«, antwortete sie. »Dabei ist sie wirklich nett, wir haben nur nicht viele Gemeinsamkeiten, außer dass wir immer ins Finale kommen und sie mich dann irgendwie mit Sechs-drei, Sechs-vier schlägt.«
»Was glaubst du, warum sie immer gewinnt? Ich meine …«
»Sie ist eine gute Spielerin«, räumte Kirsty ein. »Aber sie ist nicht vierzehn Partien besser als ich. Bloß … wenn ich gegen sie antrete, dann überwältigt mich das Ganze irgendwie. Als würde ich gegen Jessica Rabbit spielen.«
»Jessica …?«
»Aus dem Film Roger Rabbit . Eine perfekte Figur.« Sie seufzte sacht. »Lola ist einfach wie diese perfekte Figur. Alles, was andere immer wollten,
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