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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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    Als ich an einem Spätnachmittag wieder einmal eine Kolumne mit traurigen Sentenzen für Seite 34 zusammenpanschte, läutete das Telefon. Es war Frank Macguire, und seine Neuigkeiten waren so erstaunlich, dass sie mich für das ganze Wochenende aus meinem Trübsinn rissen. Webster hatte sich an meinen Rat gehalten und die Pillen geschluckt, und die Wirkung war bereits zu erkennen. Die Häufigkeit und das schädliche Potenzial der Kontakte zu Streissman hatten stark nachgelassen; Websters Verhalten war jetzt berechenbarer, seine Stimmung beständiger. Er trainierte gewissenhaft und war gestern Abend eine seiner besten Zeiten überhaupt gelaufen. Und – ganz gegen meine Erwartung – er wollte mich wiedersehen. »Die Unterhaltung mit Ihnen hat ihm wirklich viel gebracht«, erklärte Macguire. Es schmeichelte mir, dass schon diese eine stockende Konsultation mit einem störrischen Jugendlichen eine langfristige Besserung bewirkt hatte. Wir vereinbarten einen zweiten Termin, und an diesem Abend verließ ich die Praxis in seltener Zufriedenheit.
    Der Webster Bruce, der zu seinem zweiten Besuch bei mir kam, war ganz anders als der zappelige, misstrauische Klient von vor einigen Wochen. Er begrüßte mich mit breitem Lächeln und verwickelte mich in einen komplizierten Handschlag, dem ich mich erst am Ende mutig anschloss. Auch seine Worte waren Beleg für seine Fortschritte. »Ich fühle mich viel besser, Doc.« Mit weit ausladender Geste breitete er die Arme über den Sessel, in dem er beim ersten Mal nur das Polster betastet und an den Fingernägeln gekaut hatte. »Die Mittel tun mir gut.«
    »Und du läufst gut im Training?«
    »Klar.« Erneut grinste er. »Wahrscheinlich gewinne ich bei den Jugendspielen. Die Frage ist nur, ob ich antreten kann. Es ist so schön mit den neuen Pillen. Ich weiß nicht, ob ich damit aufhören soll.«
    Aber er wollte Gold bei den Spielen gewinnen. Ein Sprungbrett von fast internationalem Maßstab, eine Hommage an seinen Vater, Rache an der Gesellschaft (und vielleicht an Streissmann, dessen Name bei der Sitzung allerdings erfreulich selten fiel) – all diese Motive klangen an, als wir über Websters Ehrgeiz redeten, auf das Medikament zu verzichten und einen bahnbrechenden Sieg gegen die Collegestipendiaten zu landen. Ich teilte ihm mit, dass bei weiter anhaltenden Fortschritten nichts dagegensprach, die Behandlung bis zu dem Wettkampf zu beenden. Doch wir mussten ganz sicher sein, dass er seine Probleme völlig überwunden hatte. Seine psychische Zukunft stand auf dem Spiel, und das hatte größere Bedeutung als alles, was er auf der Laufbahn gewinnen konnte. Als ich ihm diese erwachsenen Wahrheiten auseinandersetzte, trafen sich unsere Blicke, und über einen unsichtbaren Draht übermittelte ich die weniger verantwortungsvolle Seite dieses Arguments: Webster musste diese Medaille gewinnen. Für uns beide.
    Tappte ich damit wieder in die Falle persönlicher Verwicklung? Vielleicht, aber trotz der unglückseligen Nachwirkungen hatte die persönliche Verwicklung in Lilys Fall einen großen Sprung nach vorn ermöglicht und uns eine Abkürzung zu bestimmten Einsichten beschert, auch wenn sie uns von anderen abgelenkt hatte. Außerdem fand ich es sowieso unrealistisch, den Menschen, deren psychische Verfassung mich beschäftigte, nicht zu nahezukommen. Ich musste wollen , dass es ihnen besser ging – mit effizienter Distanz war das nicht zu erreichen. In Websters Fall stellte ich nach nur zwei Treffen fest, dass sein Wohlergehen für mich zur persönlichen Mission geworden war. Schon seit der Bahnkreuzeinlage übte er eine große Faszination auf mich aus, und nachdem wir uns kennengelernt hatten, war eine echte Verbundenheit entstanden.
    Wenigstens konnten wir uns nicht auf einen tiefen Brunnen gemeinsamer Interessen berufen, der in mir die Illusion geweckt hatte, Lily und ich würden ideal zueinanderpassen. Vergangenheit und Denkweise waren bei mir und Webster sehr verschieden; und er war noch ein Kind gewesen, als ich meine berufliche Karriere begann (auch wenn er bestimmt damals schon schneller lief als ich). Trotzdem ging unser Zusammensein weit über die offiziellen Grenzen hinaus, und nach einem Cafébesuch lud ich ihn sogar in meine Wohnung ein. Wir blieben lange auf und redeten über seine Helden (Muhammad Ali tauchte natürlich auf) und

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