Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)
zu stärken. Rot für Leidenschaft, Gelb für Freude. Lydia bedurfte keiner dieser Farben. Nun, vielleicht ein bisschen Gelb, doch dabei würde er ihr helfen. Er selbst bedurfte keiner davon, wenn er bei ihr war.
Jetzt gab es Abendbrot. Ihm knurrte der Magen. Er konzentrierte sich auf die grünen Lichtstreifen, die nun fast die Haupttreppe erreicht hatten.
Ein Räuspern erregte seine Aufmerksamkeit. Miss Leadsom blieb ein kleines Stück von ihm entfernt stehen. »Bitte folgen Sie mir«, sagte sie.
Er erhob sich. Sie führte ihn durch einen prächtig möblierten Korridor zu einem Seitenflügel, den sie als die »Damenabteilung« bezeichnete. Einmal kamen sie an einem Dienstmädchen vorbei, das ein Tablett mit nur halb aufgegessenem Essen trug, doch sonst war niemand zu sehen. Das Haus war ungeheuer still. Ein dicker Perserteppich dämpfte ihre Schritte, und die schweren Wandteppiche schluckten den restlichen Lärm. Die Stille verunsicherte ihn, obwohl sie den Schreien und Rufen vorzuziehen war, die, wie er mutmaßte, sonst in solchen Institutionen vorherrschten.
»Lady Boland hat ihre eigene Zimmerflucht«, erklärte Miss Leadsom ihm und blieb vor einer nicht gekennzeichneten Tür stehen. Er nahm den Spion und das Schloss am Türgriff zur Kenntnis. »Sie genießt die Gartenanlagen, wenn das Wetter es erlaubt, deshalb haben wir sie hier im Erdgeschoss untergebracht. Sie werden feststellen, dass sie keinen Grund zur Klage hat.«
Er wappnete sich für den Moment, in dem sie nach dem Schlüsselbund greifen würde. Eingesperrt und unter Beobachtung wie ein Tier. Doch als sie die Hand hob, dann nur, um an die Tür zu klopfen.
»Ich will unter vier Augen mit ihr sprechen«, sagte James scharf.
Der Zaunkönig warf ihm einen verwunderten Blick zu. »Aber selbstverständlich. Mir fiele nicht im Traum ein, mich einzumischen.«
Eine Stimme rief sie herein. Miss Leadsom trat zurück und knickste. »Ich warte in der Halle.«
Er betrat ein spärlich möbliertes, kleines Wohnzimmer mit einem venezianischen Teppich, einem Schreibtisch und einem Bücherregal an der Wand. Die Vorhänge waren zugezogen, die Atmosphäre bedrückend. Mit tief empfundenem Schrecken stellte er fest, dass es roch wie im Haus seines Vaters. Nach Orchideen und Zitronenwachs. Er sog prüfend die Luft ein. Stella hatte stets Rosenwasser bevorzugt, doch davon lag kein Hauch in der Luft. Gestatteten sie ihr einen solchen Luxus nicht?
»James.« Die Stimme, die aus dem Nebenzimmer kam, erschreckte ihn. »Gib mir bitte noch einen Moment.«
Dass er ihre Stimme nicht erkannt hatte, verunsicherte ihn. Er lief unruhig durchs Zimmer und fuhr mit dem Finger über den unterschiedlichsten Nippes. Ein leerer Stickrahmen. Ein Buch von Mrs Gaskell. Ein kleines Porträt eines Kätzchens. Sie hatte ihre Haustiere immer sehr gemocht.
Ein Rascheln kündigte ihr Eintreten an. Als er sich umdrehte, zog sich seine Brust schmerzlich zusammen. In dem dämmerigen Licht sah sie unverändert aus. Groß und schlank. Ihre Haut war zum Glück nicht gezeichnet, bis auf die Narbe am Kinn, wo sie auf der Treppe aufgeschlagen war. Sie trug ein schlichtes, dunkles Wollkleid, und es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, warum ihre Kleidung so altmodisch wirkte: Sie trug keine Turnüre.
»Liebling«, rief sie und kam auf ihn zu. Sie umarmten sich, wenn auch nicht so lange, wie es ihm lieb gewesen wäre, denn sie entzog sich ihm sogleich wieder.
Als er den Mund aufmachte, musste er feststellen, dass er nicht wusste, was er ihr sagen sollte. Ihr leises Lächeln deutete an, dass sie das verstand. Das irritierte ihn. Er hatte ganz vergessen, wie ähnlich sie Moreland war, und war nicht daran gewöhnt, dieses Lächeln zu sehen, ohne dabei einen Hauch von Feindseligkeit und Wut zu empfinden.
»Verzeih, dass ich dich habe warten lassen«, sagte sie und deutete auffordernd auf einen Lehnstuhl. Als er Platz genommen hatte, setzte sie sich auf den anderen Stuhl. »Natürlich hättest du gar nicht erst kommen sollen. Aber ich freue mich, dass du für deine Reise so angenehmes Wetter hattest. Du bist mit dem Zug gekommen?«
Er hatte mit allem gerechnet, doch dass sie das Gespräch auf solche Weise beginnen würde, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Das waren genau die banalen Höflichkeiten, die sie einst vor Langeweile wahnsinnig gemacht hatten. »Ja«, sagte er langsam, »mit dem Zug. Und du? Geht es dir gut?«
Sie schlug die Augen nieder. »Mir geht es gut«, sagte sie. »Ich fühle
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