Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)
sinken. »Ich habe mich selbst enttäuscht. Ich habe mich selbst verraten. Ich habe mich entschieden, bei ihm zu bleiben, und wie kann ich von hier weggehen, bevor ich den Grund dafür weiß? Wie kann ich mir je selbst verzeihen, wenn ich nicht verstehe, warum ich mich entschieden habe, mir selbst so wehzutun? Wie kann ich zurück in die Welt gehen, wenn ich mir nicht sicher bin, dass ich mich nicht noch einmal selbst verrate?«
Er konnte nichts tun, als sie anzustarren. Die Emotionen, die in ihm wüteten, waren zu komplex und heftig, als dass er sie hätte in schlüssige Gedanken fassen können. »Du willst also hier bleiben«, sagte er wie betäubt, »um dich selbst zu verstehen?«
Jetzt sah sie ihn direkt an. »Ja. Genau das. Und bis dahin kannst du so wütend auf Vater sein, wie du willst. Aber nicht um meinetwillen.« Sie erhob sich, und ihm wurde mit Schrecken klar, dass sie sich von ihm verabschieden wollte. Er stand schwerfällig auf, was ihr ein Lächeln entlockte. »Bevor du gehst, sollte ich dir noch etwas zeigen. Eigentlich sollte ich es dir ganz überlassen – ich glaube, du hast es ebenso nötig wie ich –, aber ich bin zu egoistisch, um darauf zu verzichten.« Sie trat an ihren Schreibtisch und zog eine Schublade auf, der sie ein Bündel Briefe entnahm, die mit einem gelben Band zusammengeschnürt waren. Als sie am Ende des Seidenbandes zog, flatterten die Umschläge auf den Boden. »Wie dumm von mir!«, rief sie aus und hockte sich hin, um sie wieder zusammenzusammeln.
Wie frei sich Frauen bewegen konnten, wenn sie nicht mit einem Korsett eingeschnürt und zugebunden waren wie Rebhühner. Er kniete sich neben sie. Doch als er nach dem erstbesten Brief greifen wollte, hielt er ungläubig inne. »Was ist das? Die sind ja alle … «
»Von Vater, ja«, beendete sie den Satz sanft. »Er schreibt mir jeden Tag. Dachtest du, er hätte mich vergessen?«
Er hockte sich hin. Er konnte den Blick nicht von den Briefen wenden, doch die Vorstellung, sie zu berühren, bewirkte etwas Eigenartiges in ihm. Es machte ihn schwindlig und panisch. Wie die Aussicht, einen Drachen anfassen zu müssen oder in einen Wandschrank zu greifen und ein Monster zu berühren. Etwas Außerordentliches und Unfassbares, dessen fühlbarer Beweis die Grundlagen von allem zerstören konnte, woran man glaubte. Von allem, was man sich einredete, um abends einschlafen zu können.
»Dieser hier«, sagte sie und hob ein Stück Papier auf. »Bitte lies diesen hier.«
Als seine Hand immer noch zögerte, griff sie nach seinen Fingern und schloss sie einzeln um den Brief. Dann zog sie ihren Bruder am Handgelenk hoch und reckte sich auf die Zehenspitzen, um ihn aufs Kinn zu küssen.
»Bitte lies ihn«, sagte sie traurig. Sie setzte sich wieder und nahm ihre Stricknadeln zur Hand. Bis auf das leise Klappern der Stöcke war es still im Raum.
Er starrte ungläubig auf den Brief und ließ sich langsam auf dem Stuhl nieder.
Meine geliebte Tochter,
wieder eine Abendgesellschaft. Diese saisonbedingten Verpflichtungen nehmen kein Ende. Nun ja. Ich fürchte, das ist der Preis der Politik. Ich hätte dich heute Abend brauchen können, mein Liebes. Deine Stiefmutter ist zwar liebenswürdig und charmant, doch ihr fehlt die Lebensfreude, die du stets mit an den Tisch brachtest. In heiklen Momenten greift sie zwar beruhigend ein, kann die Situation jedoch nicht immer retten. Dieses Talent war dir stets gegeben. Wie oft hat dein Lachen uns unsere Sorgen vergessen lassen!
Ich hoffe, du hast in Kenhurst das Lachen nicht verlernt. Mr Dwyer berichtet mir, dass es dir besser geht, so gut, dass du Besuch bekommen könntest. Aber ich verstehe deine Zurückhaltung nicht, uns zu empfangen. Deine Stiefmutter und ich würden dich sehr gerne besuchen, falls du deine Meinung änderst.
Ich habe nicht viel zu schreiben. Das Abendessen war langweilig, bis auf eine kurze Unterbrechung durch deinen Bruder. Er tauchte mit einer Operntänzerin auf. Sie hatte eine Vorliebe für Kroketten. Ich hatte schon Angst, dass Gladstone daran Anstoß nehmen könnte. Ich hätte es besser wissen müssen. Manchmal glaube ich, James könnte sogar den Teufel überreden, zum Abendmahl zu gehen. Gott schütze meine Parteikollegen, wenn er den Titel erbt.
Wenn du einen Grund suchst, um gesund zu werden, Stella, denk bitte an ihn. Man kann mit ihm nicht mehr vernünftig reden, und ich habe es fast aufgegeben. Er wird mir nie verzeihen, dass ich dich enttäuscht habe, oder sich auch nur
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