Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)
Abendessen eingeladen worden, informierte sie der Butler. Lydia machte sich früh bettfertig, nicht weil sie müde war, sondern weil dieser Tag endlich ein Ende haben sollte. Und womöglich auch, weil tief in ihr eine Hoffnung ruhte, unerschütterlich und gegen jede Vernunft gefeit: Er würde kommen, um sie zu holen. Vielleicht war es töricht, aber sie kam nicht dagegen an. Nachts würde er zwar sicher nicht kommen, doch das hielt sie nicht davon ab, wach zu liegen und die Glockenschläge der Standuhr unten in der Halle zu zählen.
Um halb drei kamen Sophie und Ana zurück. Mit weit aufgerissenen Augen horchte sie, wie sie sich leise eine gute Nacht wünschten. Dann herrschte wieder Stille, und nach scheinbar endloser Zeit blieb die alte Uhr in der Halle stehen und die Glockenschläge blieben aus. Das stete Pochen ihres Herzens lullte sie schließlich doch noch in den Schlaf.
Als sie erwachte, war das Zimmer lichtdurchflutet, und Ana stand lächelnd an ihrem Bett. »Komm schnell nach unten! Du glaubst nicht, wer gekommen ist.«
Als sie Minuten später die Treppe hinabstieg, drang fröhlicher Lärm aus dem Salon. Am liebsten wäre sie zu ihm geflogen. Wie ärgerlich, dass dieses Wiedersehen von den Neuigkeiten getrübt wurde, die sie an ihn weiterleiten musste.
Doch als sie im Treppenhaus seine Stimme hörte – so vertraut und tröstlich wie ein Wiegenlied –, fielen ihre Sorgen von ihr ab. Sie stürmte ins Zimmer, und sein liebes Gesicht erschien ihr wie die Antwort auf all ihre Fragen: der grau melierte Schnurrbart und die sonnengebräunte Haut, der runde Rücken, das Bäuchlein, das er nicht mehr loswurde, egal wie sehr er sich in Enthaltsamkeit übte. Er hatte sich kein bisschen verändert. »Papa!«
Er unterbrach sein Gespräch mit Sophie mitten im Satz. Sein Gesicht hellte sich auf, und er breitete die Arme aus. »Lydia! Mein Liebling, wo bist du gewesen?«
Seine Umarmung roch nach seiner Reise, nach Schweiß und Kohlenrauch. Doch darunter lag die nicht greifbare Essenz dessen, was sie einst mit allem in Verbindung gebracht hatte, das sicher, liebevoll und wunderbar war. Mit einem Male wurde ihr klar, dass sie ihn noch nie so sehr gebraucht hatte wie jetzt. »Papa«, flüsterte sie in sein Revers. »Gott sei Dank bist du zu Hause.«
Sie hob den Kopf und sah an Anas strahlendem Gesicht und Sophies gefrierendem Lächeln vorbei zu George, der sich leicht abseits hielt und sie wütend anstarrte wie ein dämonischer Wasserspeier. Papa folgte ihrem Blick und raunte ihr ins Ohr: »Wir müssen uns unter vier Augen unterhalten, Lydia. Und zwar bald.«
Und schon war ihre gute Laune dahin.
Später, nach einem langen Mittagessen, in dessen Verlauf Papa sie mit Geschichten über seine Reise und die Eskapaden seiner Arbeiter unterhielt, zog sie sich mit ihm ins Gästeschlafzimmer zurück, wo sein Gepäck verstaut war. »Ich weiß nicht, wie ich es dir beibringen soll«, sagte sie, und er zog sie an seine Seite und legte ihr den Arm um die Schulter, wie er es vielleicht bei einem Sohn getan hätte.
»Nur raus damit«, ermunterte er sie. »Du kannst mir alles sagen, Liebes.«
Doch als sie ihm die Geschichte unterbreitete – die Lügen von Miss Marshall, der merkwürdige Junge mit dem Messer, die Männer am Bahnhof und (stockend, mit einem Hauch von Kränkung) Ashmores Angebot –, löste er sich von ihr. Zuerst seine Wange, die er an ihre gedrückt hatte, und dann seinen erstarrenden Arm, den er kraftlos auf die Armlehne seines Stuhls sinken ließ. Sein Gesicht lief so hochrot an, dass sie um seine Gesundheit fürchtete. Sie verstummte.
Er sprang so ungestüm auf, dass die Stuhlbeine mit einem dumpfen Schlag auf dem Teppich aufkamen. »Aber das ist doch lächerlich!«, rief er aus. »Wer ist dieser Ashmore? Woher kennst du ihn? Wie kann er es wagen, dir solche Lügen aufzutischen?«
»Er ist der Freund … eines Freundes«, sagte sie betreten. Der Freund des Mannes, den ich liebe. Sie hatte gehofft, sich ihm auch in dieser Angelegenheit anvertrauen zu können, doch die Unbeherrschtheit, mit der er jetzt auf und ab lief, veranlasste sie dazu, dieses Thema noch nicht anzusprechen.
»Für wen hält er sich? Sich aufgrund solch fadenscheiniger Zufälle ein Urteil zu erlauben!«
»Ich weiß es nicht.« Sie schob die Hände unter ihre Schenkel und drückte sie gegen den Sitz, um ihre nervöse Unruhe zu kanalisieren. »Er … er hat mir den Eindruck vermittelt, dass er für die Regierung arbeitet.«
Papa wirbelte
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