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Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)

Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)

Titel: Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meredith Duran
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Käfig markierte.
    »Das sind eben Sitten und Gebräuche«, hatte Stella einmal zu ihm gesagt. »Die müssen keiner Logik unterliegen. Sie fügen doch niemandem Schaden zu.«
    »Erklär das mal den Amerikanern und Südafrikanern«, hatte James geantwortet. »Ihnen schadet es schon, wenn sie um drei Uhr im Tim Whisky vorfahren und von all deinen Freunden verspottet werden, nur weil sie in der falschen Kutsche kommen.«
    Sie hatte gelächelt und ihm die Wange getätschelt. Sie war zwar ein Jahr jünger als er, behandelte ihn aber gern wie einen kleinen Jungen. »Darum geht es doch gerade, Dummchen. Woher sollen wir wissen, wen wir schneiden müssen, wenn sie sich nicht selbst als Ausländer entlarven?«
    Ihr Bild stand ihm glasklar vor Augen. Sie hatte viel von Moreland: strahlend blaue Augen, Haare wie Weizengold. Doch er sah ihr Gesicht jetzt nie mehr ohne die Blutergüsse vor sich. Gott, wie klein und verloren sie hinter diesen Gitterstäben ausgesehen hatte! Die Luft war faulig, nach Erbrochenem und Kot stinkend und von gellenden Schreien erfüllt. Die andere Frau in der Zelle hatte sich die Arme zerkratzt – stumm, ganz auf ihre eigene Kasteiung konzentriert – und ganz bewusst lange Furchen in ihr blutiges Fleisch gerissen. Stella hatte sich in der Ecke zusammengekauert und ihn angesehen. Sie konnte noch nicht wieder sprechen, aber ihre Augen flehten um Hilfe. Er konnte rein gar nichts für sie tun. Sie hatten sie in dieses Loch gesteckt und es Gerechtigkeit genannt. Er war überzeugt gewesen, dass sie dort sterben würde. Keine Frage.
    Aber irgendwie überlebte sie es. Und nachdem er einen Riesenaufstand machte, verlegte man sie nach Kenhurst, wo sie angeblich ihre privaten Räume zur Verfügung hatte, jeden Tag spazieren gehen durfte und alle Annehmlichkeiten genoss, die sie sich nur wünschen konnte. Er hätte es sehr begrüßt, wenn man ihm dieses Paradies einmal gezeigt hätte, aber sie ließen ihn nicht zu ihr. Bei seinem ersten Besuch schaffte er es nicht weiter als bis zu den Anstaltstoren. Beim zweiten Versuch rief Dwyer, der Anstaltswärter, sofort die Polizei. Sie traf umgehend ein, aber erst, als er die Hände schon um den Hals des Mannes gelegt hatte. Eine Minute später, und Dwyer wäre nicht mehr so selbstgefällig gewesen, sondern tot.
    Schon am nächsten Tag holte sein Vater ihn wieder aus dem Gefängnis. Ja, Moreland hatte so schnell und nachdrücklich ein paar Strippen gezogen, dass er gleich mehreren Marionetten den Hals brach. Der zuständige Richter quittierte den Dienst. Der Gefängniswärter wurde versetzt. Die Polizisten degradiert. Nur Dwyer kam unbeschadet aus der Sache heraus. Nichts konnte Moreland von seiner unerschütterlichen Verehrung des Kerkermeisters seiner Tochter abbringen.
    Herrgott, warum ließen sie ihn nicht zu ihr? Er wollte doch nur einen Blick auf sie werfen – nur, um seiner letzten Erinnerung an sie etwas Neues entgegensetzen zu können. Der Ausdruck in ihrem Gesicht bei dieser letzten Begegnung ließ ihn fast wünschen, er hätte sie überhaupt nicht gesehen.
    Ihm entfuhr ein leises Lachen. Es gab unzählige Methoden, jemanden zu verraten. Schon ein einziger Gedanke reichte dazu aus. Welches Recht hatte er schon, Lizzie zu verurteilen, die ihre Schuldgefühle in Wein ertränkte oder sich durch fehlgeleitete Wollust für einen Vollidioten selbst erniedrigte? Sie waren alle nur Produkte ihrer Gesellschaft, wie der Blaustrumpf sagen würde. Und die feine Gesellschaft hatte schon seit Langem den schönen Brauch perfektioniert, alles wegzuschließen, was bedrohlich oder störend war – oder es in einem Nebel aus Verderbtheit zu ersticken. In diesem Anklagepunkt war auch er nicht unschuldig.
    Oh, Stella zu vergessen war nicht sein Wunsch. Doch manchmal verspürte er eine morbide Faszination für ihre Situation, wenigstens nach dem, was Dwyer ihm beschrieben hatte. Unter solchen Umständen aufzugeben wäre so einfach. Ein festgelegter Zeitplan, aller Entscheidungen entledigt. Eine ganze Belegschaft, die gewillt war, einen zu etwas zu zwingen, wenn man selbst nicht die Energie dafür aufbrachte. Keine Notwendigkeit, morgens aufzustehen, sich anzuziehen, sich das Gesicht zu waschen. Ein gedankenloses Schreiten durch die einem zugeteilten Tage, mit nichts, wogegen man kämpfen musste, und nichts, was man entscheiden musste. Seine Schwester hatte eine solche Behandlung weder nötig noch verdient, doch für sich selbst konnte er es sich durchaus vorstellen.
    Natürlich war

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