Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)
Viscount geregelt habe.«
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Vier Stunden nachdem er erschöpft ins Bett gefallen war, stand James schon wieder auf. Ungehalten darüber, dass sein Körper nicht so willig war wie sein Geist, schickte er seinen Kammerdiener weg, schlurfte ins Ankleidezimmer und setzte sich ans Fenster, um erst einmal richtig wach zu werden.
Er war zu lange aus gewesen. Zuerst im Novelty Theater, wo Dalton eine Gruppe leicht bekleideter Schönheiten aufgetan hatte – ein paar Tänzerinnen und eine Sekretärin. Letztere arbeitete im Büro eines anderen Theaters und sprach so elliptisch wie die Telegramme, für die sie dort zuständig war. Tilney hatte vorgeschlagen, sie zum Spaß mit zu den Cholomondleys zu nehmen. Es stellte sich heraus, dass Michael und Melisande durchaus unterhaltsam waren und ihre Gäste aus Paris kamen und leicht zu amüsieren waren. Champagnerflaschen wurden geköpft. Die Tänzerinnen tanzten auf dem Esszimmertisch einen Cancan und fanden damit großen Anklang. Die Sekretärin, die sich nicht ausstechen lassen wollte, erklomm das Klavier und schmetterte eine mitreißende Version von The Boy I love is up in the Gallery . Leider hatte der Alkohol ihren Gleichgewichtssinn beeinträchtigt, sodass sie während der letzten Strophe auf eine sehr hübsche Vase fiel und sie zerbrach. Die Pariser applaudierten zwar begeistert, doch die Cholomondleys erwiesen sich als weniger tolerant, was James ihnen nicht einmal verübeln konnte. Die Sekretärin hatte eine grässliche Stimme, wie eine gequälte Katze.
Nachdem man sie vor die Tür gesetzt hatte, siedelte die Gesellschaft zu Barnes’s über, wo sich James auf einer roten Plüschbank lümmelte und zufrieden und angetrunken den Mädchen beim Kichern zuhörte. Sie tranken Moët & Chandon direkt aus der Flasche und waren alle sehr ungezwungen. Wieder konnte er einen Abend aus dem Kalender streichen. Aber es war trotzdem langweilig. »Hast du etwa einen besseren Vorschlag?«, hatte Dalton ihn gefragt. Zugegebenermaßen nicht. Aber immerhin hatte er danach gut geschlafen – einen tiefen, traumlosen Schlaf. Doch der währte nicht lange, und er erwachte mit schmerzendem Kopf.
Die Sonne schien ihm ins Gesicht, worauf er zusammenzuckte und sich die Augen rieb. Er griff nach dem Stapel Briefe auf dem Sekretär. Die aktuellsten Berichte aus seinen Fabriken in Manchester. Ein Brief von Elizabeth, der kaum zu entziffern war. Zweifellos in betrunkenem Zustand geschrieben, denn Nello war bei ihr gewesen und hatte in einem Postskriptum seine Grüße hinzugefügt. Auf dem letzten Umschlag stand kein Absender. Wenigstens war die Handschrift gut zu lesen. Geben Sie die Tränen zurück oder machen Sie sich auf ihren Fluch gefasst .
Interessant. Schon der dritte dieser Art, den er diese Woche bekam. Erstaunlich, wie viele Verrückte es hinter dem Ofen hervorlockte, wenn sein Name wieder einmal in der Zeitung stand. Er knüllte den Brief zusammen und warf ihn in den Abfall. Dann wandte er sich wieder zum Fenster.
Belgravias Sträßchen lagen verlassen da. Eine unbeliebte Tageszeit. In zwei Stunden jedoch würde die Straße mit Phaetons verstopft sein. Abenteuerlustige Damen nahmen in ihren Kutschen die Zügel selbst in die Hand, während ihre nervösen Stallknechte sich verzweifelt auf ihren Sitzen festklammerten. Doch in fünf Stunden würden sich dieselben Frauen nicht einmal tot dabei erwischen lassen, die Pferde selbst zu lenken. Für den zweiten Ausflug in den Park wären nur große Kutschen und offene Landauer gut genug. Gott, er hatte Mayfair dermaßen satt. Es funktionierte genauso regelmäßig wie ein nervtötendes Schweizer Uhrwerk, und seine tausendfache Schar aus Kuckucksvögeln bewegte sich so vorhersehbar zu seinem Takt, dass er sekundengenau vorhersagen konnte, was sie als Nächstes taten. Doch diese Erkenntnis behagte ihm nicht. Könnte er doch sein Hirn von solchen Trivialitäten reinigen! Es musste bessere Verwendungsmöglichkeiten dafür geben, als sich eine Riesenmenge an Unsinn zu merken.
Doch genau da lag das Problem. Anders als eine Uhr konnte man diese kleine Welt nicht einfach zertrümmern, und diese idiotischen Trivialitäten waren gar nicht so trivial. Wie die Gitterstäbe einer Gefängniszelle legten sie den Grundriss für den Rest seines ganzen verdammten Lebens fest. Auch den von Phin, nur dass ihm das noch nicht klar war. Phin glaubte, den Titel zu erben hätte ihn befreit, obwohl dieses Bilderbuchende in Wahrheit nur seine Gefangenschaft in einem anderen
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