Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)
Diener die Röcke abbürsten lassen. Andererseits, nach allem, was er bisher von Miss Boyce gesehen hatte, bedurfte sie keiner derart gewöhnlichen Rüstung. Er nahm ihr gegenüber Platz. »Dann vielleicht, um mich zu verführen? Ich muss gestehen, dass ich darauf nur unzulänglich vorbereitet bin. Ich habe mich heute Morgen nur gekämmt.«
Sie musterte ihn mit objektiver Gründlichkeit. »Sie sehen recht präsentabel aus.«
Er grinste verdutzt. »Flirten Sie nicht mit mir, Miss Boyce. Das verkrafte ich nicht.«
Sie zog die Augenbrauen hoch, woraus er folgerte, dass sie entschlossen war, ihm einen strafenden Blick zuzuwerfen. Doch leider hatte sich die Natur gegen sie verschworen und sie mit schräg stehenden Augen bedacht, was ihm das Gefühl gab, von einem jungen Hund getadelt zu werden. »Ein Springer Spaniel«, murmelte er.
»Wie bitte?«
»Das ist die Hunderasse, die ich Ihnen zuordnen würde.«
Wenn man sie provozierte, bekamen ihre Wangen eine hübsche Farbe. Ein klassischer rosig-cremefarbener Teint, ohne auch nur eine Sommersprosse oder ein Leberfleckchen – bis auf das am Rande ihres Mundes, genau in der Mulde ihrer Oberlippe. Das hatte er neulich Abend schon entdeckt und sich aus irgendeinem Grund gezwungen gefühlt, mit dem Finger darüberzufahren. Der Leberfleck markiert den Punkt . Als er das tat, hatte ihre Zunge – klein, rot und feucht – herausgelugt und ihn geleckt. Als ob er angenehm schmeckte. Er war in arge Versuchung geraten, ihn selbst zu schmecken. Erstaunlich, wie man sich nach dreißig langen Jahren immer noch selbst überraschen konnte.
»Sie vergleichen mich mit einem Hund ?«, fragte sie entgeistert.
»Ich mag Hunde sehr. Und im Vergleich zu anderen Hunden ist es zweifellos eine bezaubernde Rasse.«
Ihr Kiefer malmte. Sie knirschte mit den Zähnen. Eine schlechte Angewohnheit. Immerhin gut zu wissen, dass sie eine hatte. »Na schön, ärgern Sie mich ruhig. Ich weiß sehr wohl, dass mein Verhalten mich jeder moralischen Überlegenheit beraubt. Aber ich muss Sie bitten, Nachsicht zu üben und sich trotzdem zu benehmen.«
Schwer, von solcher Unverfrorenheit nicht beeindruckt zu sein. »Bravo, Miss Boyce. Sie betreten unaufgefordert das Haus eines Mannes und sagen ihm dann, dass er sich anständig benehmen soll. Thackeray hätte das nicht besser schreiben können.«
Ihre Kehle bewegte sich beim Schlucken. »In Ordnung, das war vermutlich unverschämt. Aber ich muss zugeben, meine Nerven sind ein wenig angegriffen. Sie glauben ja nicht, was für einen Morgen ich hinter mir habe. Meine Schwestern benötigten den Brougham für sich, und ich konnte ihnen ja schlecht sagen, dass ich ihn brauchte, um Sie zu besuchen. Aber es gab keine Droschken, sodass ich gezwungen war, einen Pferdeomnibus zu nehmen. Und er stellte sich als Betrug heraus!«
Er lachte. »Was für eine Ironie des Schicksals!«
Sie riss ihre bernsteinfarbenen Augen weit auf. »Ironie? Es war skandalös! Nicht angemeldete Fahrzeuge, die sich als offizielle London-General-Busse ausgeben! Darin saß eine Dame, sehr ordentlich gekleidet, von der ich nur mutmaßen kann, dass sie dort platziert wurde, um nichts Böses ahnende Kunden anzulocken. Für eine Fahrt, die sonst fünf Pence kostet, verlangten sie einen Shilling! Was ist das nur für eine Welt?«
»Also wirklich. Die Unverschämtheit des habgierigen Proletariats wächst mit jedem Tag, fürchte ich.«
Sie sah ihn finster an. »Ich bin kein Snob, Sir. Ich glaube, man darf durchaus Stellung gegen Betrug beziehen, ohne sich gleich in Klassenpolitik zu ergehen.«
»Sie sind viel scharfsinniger als ein Durchschnittssnob«, räumte er ein. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Frauenbildung preisen oder ihr Verbot befürworten soll.«
Sie reckte trotzig das Kinn in die Höhe. Es lief aufreizend spitz zu, und er fragte sich, ob sie irgendjemand dort schon einmal zärtlich gebissen hatte. Bei seiner Berührung hatte sie nach Luft geschnappt, und dieser Laut – so ungewollt, widerstrebend sinnlich – klang seitdem in ihm nach. Nur ein leiser, kurzer Laut, und doch hatte er die Reize der Tänzerinnen gestern Nacht völlig in den Schatten gestellt. Mit einer Anwandlung von Interesse stellte er fest, dass ihm diese Erkenntnis durchaus nicht unangenehm war.
»Ich war schon immer intelligenter als andere«, erklärte sie. »Meine Bildung hat damit nichts zu tun.« Als ihr das belustigte Kräuseln seiner Lippen auffiel, fügte sie hinzu: »Das amüsiert Sie?«
»Ich bin nur
Weitere Kostenlose Bücher