Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)
erleichtert. Ich hatte mich schon gefragt, ob Sie überhaupt irgendwelche Fehler haben.«
In ihrem Gesicht spiegelten sich ihre widerstreitenden Gefühle wider. Sie brauchte eine ganze Minute, bis sie der Versuchung nachgab, aber das war nicht weiter überraschend. Dass sie eigensinnig war, hatte er schon vorher gewusst. »Was meinen Sie damit?«, fragte sie. »Was für einen Fehler?«
»Stolz natürlich, Miss Boyce. Sie bilden sich viel auf Ihre Intelligenz ein.«
Sie machte einen Schmollmund, wodurch die Andeutung eines Grübchens zum Vorschein kam. In Verbindung mit ihrem steifen Auftreten schien es ganz und gar nicht passend. Ein rein anatomischer Zufall, redete er sich ein, nur ein Streich ihrer zusammengepressten Lippen. Dennoch ertappte er sich dabei, wie er fasziniert darauf starrte und sich fragte, was er anstellen konnte, damit es ausgeprägter würde. Hauchiger Atem, aufblitzende Grübchen: Ihn beschlich der Verdacht, dass Miss Boyces Körper ihre Tugend gern sabotierte.
»Natürlich tue ich das. Ich bin eine Frau. Wenn ich meinen Verstand nicht hoch schätze, wer wird es sonst tun?«
Nur mit Mühe riss er sich vom Anblick des Grübchens los. So eine kuriose Mischung aus Trotz und Angeberei. Zwar waren ihre Schwestern die anerkannten Schönheiten, doch Miss Boyce verfügte über ganz eigene Reize, die nun, im Zusammenspiel mit ihrer spontanen Ehrlichkeit, besonders sichtbar wurden. Ihre Augen sprühten vor Intelligenz. Schon neulich Abend waren ihm ihre schweren Lider aufgefallen, die ihr ein permanent schläfriges Aussehen verliehen, sodass sie stets wirkte, als sei sie gerade erst aufgestanden. Plötzlich völlig von ihr eingenommen, lächelte er unwillkürlich. Sie hatte einige Unannehmlichkeiten auf sich genommen, um zu ihm zu kommen. Der Sieg sei ihr gegönnt. »Gut gekontert, Schätzchen.«
Das Kosewort gefiel ihr nicht. Ihr Gesicht, eben noch strahlend, als sie ihre Gelehrtheit verteidigte, verdunkelte sich wie ein Fenster mit geschlossenen Läden. »Aber ich will zur Sache kommen. Sie werden sich fragen, warum ich hier bin.«
»Um für die schändlichen Taten Ihres Vaters um Verzeihung zu bitten, vermute ich.«
Sie presste den Mund noch fester zusammen. Herrgott, wie sich dieses Grübchen gegen sie verschwor. Es lenkte die Aufmerksamkeit auf ihren Mund, der übermäßig breit war und damit der aktuellen Mode nicht entsprach, und löste in ihm Wünsche aus, die dem Augenblick nicht angemessen waren. Und alles andere als legal .
Belustigung regte sich in ihm. Seltsam, unerwartet, aber nicht zu leugnen: Er fühlte sich ganz und gar zu ihr hingezogen. Auf irgendeiner primitiven Ebene erkannte sein Körper den ihren. Der Befehl, den er erteilte, war derb und ungehobelt: vor fünftausend Jahren hätte er sie in eine Höhle gezerrt. Und die steinzeitliche Miss Boyce, ohne jede Bildung und ihrer spitzen Zunge beraubt, hätte stattdessen einen spitzen Felssplitter genommen und ihn geschickt damit ausgeweidet.
Er bemerkte, dass sie gerade zum Schluss kam. »Verzeihung, ich habe nicht zugehört. Können Sie noch einmal von vorn beginnen?«
Sie fixierte ihn finster. Sie hatte sich geschworen, sich von ihm nicht provozieren zu lassen: das sah man an ihren zusammengebissenen Zähnen. »Ich wiederhole es ganz langsam«, sagte sie in einem Ton, in dem Mütter sich sonst an ihre störrische Dreijährige wandten. »Ich weiß, dass mein Besuch jenseits der Grenzen von … «
»Selbst wenn Sie selbst die Regeln brechen, bestehen Sie darauf, mich an sie zu erinnern? Also wirklich, Miss Boyce, haben Sie Erbarmen!«
Ihr Ton wurde schärfer. »Aber ich wollte Sie persönlich ansprechen.«
»Das tun Sie durchaus.«
Ihre Augen weiteten sich. Sie setzte zu einer Bemerkung an, besann sich aber eines Besseren. Zweifellos hatte sie seine Feststellung richtig gedeutet, wollte es aber nicht wahrhaben. Arme Miss Boyce. Diese nüchterne, enggeschnürte Wissenschaftlerin war gegen ihren Willen in einem Körper gefangen, der nach Blumen duftete und in einer geheimen Sprache mit seinem kommunizierte, die nicht einmal sie selbst verstand. Kein Wunder, dass sie sich verschleierte. Der Gedanke, ungewollt männliche Aufmerksamkeit zu erregen, musste sie entsetzen.
»Hören Sie«, sagte sie und erhob sich. »Ich habe Mr Carnelly einen Besuch abgestattet.«
»Tatsächlich?« Aus irgendeinem Grunde überraschte es ihn nicht, dass sie sich veranlasst gefühlt hatte, höchstpersönlich ins East End zu fahren. »Wie war es?
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