Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)
Erfahrung, wenn er sie das nächste Mal sah, oder spätestens in ein paar Wochen, an Reiz verlieren würde. Wie seltsam. Wie erstaunlich. »Ist das ein Spiel, mit dem Sie sich amüsieren?«, setzte er an, indem Sie allen vorspielen, dass Sie reserviert, kalt, unbeteiligt sind … Doch der Rest blieb unausgesprochen, da sich ihm die Kehle zuschnürte. Eine eigenartige Furcht, dass sie ihm nicht ehrlich antworten würde, erstickte seine Neugier.
Sie runzelte die Stirn. Sie hatte keine Ahnung, was er meinte. Oder vielleicht auch doch, denn sie wich seinem Blick aus und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Offensichtlich ging ihr jetzt auf, dass sie ihm gerade zu viel von sich offenbart hatte. Er betrachtete ihre lange Nase. Schnurgerade war sie, ein Wunder, dass ihr nicht permanent die Brille herunterrutschte. Ihre Lippen hingegen waren prall, sorgsam ausdruckslos. Zu spät , dachte er, von plötzlicher, heftiger Lust gepackt. Zu spät, Lydia. Ich habe dich gesehen.
Der Nebel blitzte grellweiß auf. Ein leises Lächeln von ihr, das sie rasch unterdrückte. Nun denn. Sie amüsierte sich noch immer, störte sich jedoch daran, dass er zuschaute. Sie brauchte diesen Betrug nicht aufrechtzuerhalten. Nicht vor ihm , Herrgott noch mal. Dass sie es trotzdem tat, kam ihm seltsamerweise wie ein Verrat vor. Wie aus heiterem Himmel fiel ihm der Tag ein, an dem er dahintergekommen war, was für ein Spiel Boland trieb. Er dachte an die hilflose Wut und den Schmerz, die diese Erkenntnis in ihm geweckt hatte, so als spielten seine Gefühle dabei eine tragende Rolle. An jenem Tag hatte er genau das Falsche zu Stella gesagt. Er gäbe alles darum, wenn er die Worte zurücknehmen könnte: Mein Gott! Ich bringe den Scheißkerl um. Und dann: Warum zum Teufel hast du es mir nicht gesagt?
Er wollte diesen Augenblick nicht verderben oder Wahrheiten aussprechen, die sie nur zum Weglaufen veranlassen würden. Deshalb nahm er sie beim Arm und zog sie zum Bootshaus.
Einen kurzen Moment lang leistete sie Widerstand. Das bot ihm die Gelegenheit, seine Frustration zu kanalisieren. Ihre Haut und ihre Muskeln unter seinen zupackenden Fingern waren fest. Dies war die elementarste Heuchelei, die man sich vorstellen konnte: jünger zu sein, als man eigentlich sein wollte. Sie hatte beschlossen, für körperliche Begierden zu alt zu sein, doch sie kam nicht gegen ihren Körper an. Sie konnte die Art nicht ändern, wie er zu ihm sprach, oder dass er für ihn sorgen könnte, seine Bedürfnisse erfüllen könnte. Und zwar besser, als sie sich träumen ließ.
Gemeinsam betraten sie den kleinen Schuppen. Paddel hingen an der Wand aufgereiht, und die Luft roch nach Wachs und Holzlack. Sie machte sich von ihm los, und ihre durchnässten Röcke wischten über die Planken. Er schüttelte heftig den Kopf und empfand eine kindliche Freude daran, wie die Tröpfchen sie bespritzten. Unerklärlich, dieses Bedürfnis, sie zu irgendeiner, egal welcher Reaktion herauszufordern. Er hatte keine Kontrolle darüber. Es wollte nach ihr greifen und sie packen, sie schütteln und dazu zwingen, ihm Beachtung zu schenken.
Doch sie verweigerte ihm diese Befriedigung und konzentrierte sich vollkommen auf das Glätten ihrer Röcke. Eine ganze Weile beschäftigte sie sich mit ihnen, bis ihr in der Stille vielleicht aufging, dass sie keinen glaubwürdigen Vorwand mehr für ihr Interesse lieferten. Sie blickte auf, und ihre Augen wurden groß, als sie merkte, dass er sie beobachtete.
Sie spielte nicht mit ihm. Sie hatte keine Ahnung von der Wirkung, die sie auf ihn ausübte.
Diese Erkenntnis hätte seine Verärgerung mildern sollen. Das tat sie aber nicht. Herrgott, wie oft hatte er sich jetzt schon zum Narren gemacht? Und dennoch blieb sie auf eine Weise naiv. Wie konnte eine erwachsene Frau so grundlegend unbedarft sein, was ihre Reize betraf?
Ganz beiläufig sagte sie: »Ich vermisse die ländliche Umgebung. Es scheint, als hielten wir uns ständig in der Stadt auf.« Aus ihrem entschuldigenden Unterton schloss er, dass sie ihm dieses Schmankerl – ärgerlich unpersönlich, als wären sie einander fremd – als Erklärung anbot.
Doch er hörte ihr genauer zu, als sie glaubte. Da war etwas in ihrer Stimme, dachte er. Es war ihm auch früher schon aufgefallen. Bei ihrem ersten Treffen war ihm die Heiserkeit unter diesen sorgsam justierten Tönen aufgefallen. Auch dort ein Hauch Unzivilisiertheit? Als müsste sie sich Dinge verkneifen, die sie eigentlich viel lieber
Weitere Kostenlose Bücher