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Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)

Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)

Titel: Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meredith Duran
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war ein ungezügelter Laut. Er fragte sich kurz, ob sie getrunken hatte, obwohl der Gedanke ihm abwegig vorkam. »Hallo, James.« Ihr heiterer, gelassener Ton irritierte ihn. Er passte nicht zu diesem Lachen. »Wann sind Sie angekommen?«
    Diese gleichmütige Begrüßung brachte ihn aus dem Gleichgewicht. »Gerade eben«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. Plötzlich kam er sich töricht vor. Er war in ein Gewitter gestürmt, um eine Jungfrau in Nöten zu retten, und fand stattdessen eine Artemis vor. Eine Nymphe. Eine urwüchsige Gestalt, die seiner nicht bedurfte.
    In Ordnung, er war wütend. Was war ihm sonst noch an ihr entgangen? Würden ihr Flügel wachsen, sobald er ihr den Rücken kehrte? Ich habe Höhenangst , hatte sie zu ihm gesagt, und wir haben keine Anstandsdame, es wäre ungebührlich , doch rückblickend hätte diese Beteuerung sie verraten können: Ich trinke den Gin sowieso nicht . Sie warf ihm diese Sätze hin wie Köder und brachte ihn so zu eklektischen Mutmaßungen über ihren Charakter. Wie undankbar von ihr, wie kleingeistig, sich so fade zu geben. Die Welt bedurfte besserer Dinge von ihr. Er bedurfte besserer Dinge von ihr. »Welche Anstrengung es Sie kosten muss«, sagte er, ohne sich die Mühe zu machen, seine Gereiztheit zu verbergen. »Wie zermürbend es für Sie sein muss, sich permanent als biederes, verschrobenes Fräulein auszugeben.«
    Ihr Lächeln verdunkelte sich zu etwas Menschlicherem. »Sie haben mich gesucht?«, fragte sie.
    »Oben im Haus glauben sie, Sie hätten sich verlaufen.«
    »Oje! Hoffentlich hat sich niemand Sorgen gemacht.«
    In seinem Kopf machte es ein zweites Mal Klick. Ihre Schwester war in keiner Weise besorgt gewesen. Sie hatte nicht einmal Überraschung geäußert. »Überhaupt nicht. Das bedeutet … es gefällt Ihnen, oder? Sie wurden gar nicht vom Unwetter überrascht. Sie sind extra deshalb nach draußen gegangen.«
    Um ihre Mundwinkel zuckte es belustigt. »Vielleicht war mir nach Baden zumute.« Dann zuckte sie mit den Achseln. »Ich dachte nicht, dass mein Fehlen bemerkt würde.«
    Das war eine sonderbare Feststellung, doch ihre Miene war abgeklärt, schicksalsergeben. Während er sie entgeistert anstarrte, ebbte seine Verlegenheit ab. Ein Dutzend Unannehmlichkeiten nahm er nur undeutlich wahr: Seine Kleider waren feucht und klamm, seine Hemdsärmel klebten ihm an der Haut und der kalte Regen pikste auf seinen Wangen wie Nadelstiche. Doch – das wurde ihm plötzlich klar – ihre Vorliebe war durchaus nachvollziehbar. Es gab Phänomene hier draußen, die man bewundern konnte.
    Er atmete tief durch und sah sich um. Der Nebel war dichter geworden, sodass man nicht weiter sehen konnte als ein paar Meter weit. Doch der Geruch der aufgeweichten Erde war herb und berauschend, als ob unter dem Klatschen des Regens alles anschwölle: fruchtbare Lehmerde, frische grüne Sprösslinge, Pflanzensaft und Gras, abgeknickte Blumenstängel. Ein leichter Ozongeruch überlagerte alles. Die Luft blieb auch nach dem Blitz wie elektrisch aufgeladen.
    Lydia trat an ihm vorbei vom Steg. Er war überrascht, folgte ihr aber langsam. Als sie stehen blieb, griff sie in den Nebel und zeigte ihm, wie aus dem Äther gezaubert, eine samtweiche rote Rosenblüte. »Sie blühen bei Regen auf«, sagte sie leise. »Sehen Sie nur, wie sie sich ihm öffnen.«
    Die Worte fuhren ihm direkt in die Lenden. Alles an ihm straffte sich. Es war die Bemerkung einer Wollüstigen, die Bemerkung der Frau, die sie sein könnte, wenn sie es sich nur gestattete. Wenn sie dazu nur fähig wäre.
    In dem Moment durchdrang ihn ein eigenartiges Gefühl. Es fühlte sich an wie Zuneigung, aber zarter, gefährlicher für sein Gleichgewicht. Natürlich rannte sie bei Unwettern ins Freie. Wie ein Dach war das für sie ein geschützter Raum. Niemand, der sie sehen konnte, wenn sie die Regeln brach. Sie wusste genau, dass sie im Haus niemand vermisst hatte. Sie hatte sogar darauf gezählt, dass niemand sich die Mühe machen würde, ihr nachzujagen. Alles Dummköpfe, ausnahmslos.
    Er atmete tief ein. Er konnte die Rosen jetzt riechen. Doch sie irrte sich: Sie mochten den Regen überhaupt nicht. Der Regen öffnete die Blütenblätter gewaltsam – die Rosen ergaben sich ihm nur.
    Sie sah ihn aus den Augenwinkeln an. Er erwiderte ihren Blick offen und direkt. Er hatte damit gerechnet, dass ihre Anziehungskraft auf ihn nur eine vorübergehende Laune sein würde, eine kurzzeitige Verrücktheit – dass diese neue

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