Rütlischwur
nahm den Betrag entgegen, den sie für die Fahrt ausgemacht hatten. »Vielleicht ist es besser, ich warte noch einen Moment … Ich meine, falls man Sie hier nicht hineinlässt.«
Judith schüttelte den Kopf. »Fahren Sie, ich komme schon zurecht.«
Sie stieg aus und wartete. Als der Wagen außer Sichtweite war, drückte sie auf den Knopf der Überwachungsanlage.
Eine Stimme meldete sich.
»Ich möchte zu Herrn Walther.«
»Wen darf ich melden?«
Judith zögerte einen Moment, bevor sie den Namen sagte:
»Habakuk.«
»Wie bitte?«
Judith nannte drei weitere Namen:
»Daniel, Joel, Jona …«
»Sie hätten sich anmelden müssen. Ich kenne keinen von Ihnen.«
Judith lächelte. »Herr Walther kennt uns. Haben Sie etwas zum Schreiben?«
»Ja.«
»Dann notieren Sie.«
Judith zog den Zettel aus ihrer Jeans und las der Reihe nach alle Namen vor, die sie notiert hatte. Sie sprach langsam, als handelte es sich dabei um ein Diktat für Drittklässler. Angefangen mit den vier Großen: Daniel, Ezechiel, Jeremias und Jesaja – gefolgt von den zwölf Kleinen.
So wie sie die Namen laut vor sich hin sagte, merkte Judith, wie vertraut sie noch klangen. Es war unnötig gewesen, sie aufzuschreiben. Judith faltete den Zettel und sprach die letzten vier auswendig: »… Nahum, Obadja, Sacharja, Zephanja.«
Stille.
»Haben Sie’s?«
»Das sind ja die Namen der Propheten«, sagte die Stimme aus dem Lautsprecher.
Judith schwieg. Es hatte Vorteile, wenn man fünf Jahre eine katholische Stiftsschule besucht hatte. Man kannte danach die Bibel. In- und auswendig. Das Alte und das Neue Testament. Als sie an jenem verhängnisvollen Abend die Files in Jakob Banz’ Laptop entdeckt hatte, da waren ihr diese Namen aufgefallen. Sie passten einfach nicht zu den Finanzbegriffen, stachen heraus wie Albinomäuse in einem Käfig voller Ratten.
Dass ein Diener, ein Hausangestellter, Butler … oder wer immer es war, mit dem sie gerade sprach, die Propheten des Alten Testaments ebenso kannte wie sie, irritierte Judith.
»Wir kaufen keine Bibeln.«
»Sprechen Sie darüber mit Herrn Walther. Ich werde warten.«
Eine Viertelstunde war vergangen, dann öffnete sich das Tor. Eine zierliche Frau Mitte sechzig empfing Judith.
»Kommen Sie mit.«
Sie folgten dem breiten Kiesweg, der durch einen parkähnlichen Garten führte. Zwischen Rosensträuchern und großzügig angelegten Rhododendronbeeten erstreckte sich eine Rasenfläche aus dunklem Grün. Mittendrin, wie bunte Hunde, standen Plastiken berühmter zeitgenössischer Künstler.
Der Kies unter Judiths Turnschuhen knirschte, während sie einen Schritt vor den anderen setzte. In ihrem Gesicht spürte sie den kühlen Wind vom See.
Was wusste Walther wirklich über Hawala?
Judith hatte über das geheimnisvolle Bankensystem nachgeforscht, das bis vor ein paar Jahren nur wenigen Menschen der westlichen Welt bekannt gewesen war. Eine Gruppe von Staatsanwälten hatte es damals mit den Anschlägen auf das World Trade Center in Verbindung gebracht. Seither gab es einige Beiträge im Internet und ein paar Zeitungsartikel von findigen Journalisten. Allerdings war das Thema wieder von der Bildfläche verschwunden. Vielleicht auch deshalb, weil der gewaltige Zusammenbruch des traditionellen Bankenwesens wie ein Feuerball alle Blicke auf sich gezogen hatte.
Im Vergleich zur Finanzindustrie, die im Namen der Transparenz das Firmament der kapitalistischen Welt hell erleuchtet hatte, blieb Hawala im Dunkel anonymer Netzwerke verborgen. Ein gigantischer, unterirdischer Pilz, von dem nur hie und da kleine Auswüchse sichtbar wurden.
Und während sich die Gemeinschaft der Finanzinstitute damit abmühte, Betrug und Missbrauch durch eine Flut von Gesetzen und Regelungen einzudämmen, florierte mit Hawala ein System, das einzig und allein auf Vertrauen basierte. Nicht ein einziger schriftlicher Vertrag war nötig, keine Quittungen, keine Unterschrift.
Ein grotesker Gedanke, fand Judith.
Hawala war perfekt dafür ausgelegt, Geld von A nach B zu verschieben, ohne in den gängigen Zahlungssystemen – weder in den Computern noch auf Papier – eine einzige Spur zu hinterlassen.
Judith war sich des Risikos bewusst, das sie einging. Sie würde den Mann, den sie an der Spitze von Hawala vermutete, direkt darauf ansprechen.
Sie war für das bevorstehende Gespräch bereit.
* * *
Eschenbach hielt noch immer den Polizeibericht aus Irland in den Händen. Er versuchte John zu beruhigen, der ihm
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