Rütlischwur
überhaupt nichts zu tun.« Eschenbach tippte mit dem Finger auf die Graphik.
»Vermutlich hat Ernest ihr gesagt, dass sie mich fragen soll. Judith ist mit allem immer zu mir gekommen.«
»Sehen sich die beiden denn oft?«
Der Mönch nestelte an seiner Brille. »Judith ist immer wieder dort gewesen … in Irland, meine ich. Sie hat mir Ansichtskarten geschrieben. Deshalb weiß ich das.«
Eschenbach seufzte. »Also los, erklären Sie’s.«
John nickte. »Heute ist Hawala vor allem im Nahen Osten, in Afrika und Südostasien verbreitet. Aber wenn wir die Sache zurückverfolgen, dann finden wir seinen Ursprung im frühen Mittelalter des Vorderen und Mittleren Orients …«
»Keinen Geschichtsunterricht, bitte, John!«, unterbrach der Kommissar. »Ich will einfach nur wissen, wie’s funktioniert.«
»Aber die Geschichte ist wichtig, das habe ich auch schon Judith gesagt: Hawala ist zu einer Zeit entstanden, als das Wort noch ein Wort war.«
»Am Anfang war das Wort.«
»Sie machen sich lustig über Dinge, die Sie nicht verstehen.« John hielt einen Moment inne. »Aber das System funktioniert halt einmal so … einzig und allein nur auf Vertrauen.«
Eschenbach setzte sich auf den Stuhl am Schreibtisch und betrachtete mürrisch das Blatt Papier. »Von mir aus, John … Hier steht A und B.«
John seufzte. »Die Zeichnung hat Judith angefertigt, auf dem Computer. Sie ist wie Sie … will immer alles jetzt und sofort. Aber es braucht Zeit. Ich bin ein langsamer Mensch, verstehen Sie? Langsam – dafür aber sehr genau.«
»Ich höre.«
»Gut.«
John bückte sich über die Graphik und spitzte den Mund. »Judith hat das ziemlich gut hingekriegt, finde ich.«
»Wir beginnen bei Person A: Sie will einer Person B Geld geben. Dafür muss Sie dem ›Hawaladar‹ X, dem sie das Geld bar aushändigt, vertrauen.«
Eine Pause entstand.
»Ich bin so weit, John. Ein Hawaladar ist so eine Art Agent. Bis jetzt habe ich alles begriffen.«
»Person B bekommt das Geld dann von Hawaladar M zugestellt, ebenfalls in bar. Damit das funktioniert, wird zwischen A und B ein Code vereinbart, zur Authentifizierung gegenüber ihrem jeweiligen Hawaladar. Bei diesem Code kann es sich um ein Wort oder um Zahlen handeln.«
»Wie wäre es mit einem Beispiel?«, fragte Eschenbach.
»Also gut: Person A gibt seinem Hawaladar X in Zürich 10000 Franken. Dieser ist im Kontakt mit Hawaladar M in Karatschi, der an Person B dort den gewechselten Gegenwert in Rupien auszahlt – häufig nicht zum offiziellen Wechselkurs, sondern erheblich günstiger, da keine Bankgebühren oder Steuern anfallen. Ein weiterer Vorteil ist die Schnelligkeit der Transaktion. Wenn sich A und B gleichzeitig bei ihren Hawaladaren (X und M) aufhalten, wird sie innerhalb weniger Minuten abgewickelt, was in der Regel sehr viel schneller ist als eine normale Auslandsüberweisung. In diesem Punkt ähnelt das System stark den auf Geschwindigkeit ausgelegten Auslandsüberweisungssystemen von Western Union und MoneyGram. Der entscheidende Unterschied ist, dass bei Hawala X und M voneinander unabhängig handelnde Personen sind, wohingegen bei den Banksystemen jeweils die Bank sowohl die Rolle von X als auch von M übernimmt. Der Geldfluss innerhalb des Bankensystems ist transparent, der bei Hawala nicht. Hinzu kommt, dass sich A und B normalerweise weder identifizieren noch die Herkunft des Geldes nachweisen müssen. Und das kann je nach Situation äußerst komfortabel sein.« John machte eine Pause und grinste. »Kennen Sie die drei Affen, Kommissar?« Er sah zu Eschenbach hoch. »Der erste sieht nichts, der zweite hört nichts, und der dritte sagt nichts.« Der Mönch legte seine Hände abwechselnd auf Augen, Ohren und Mund. »So ein System ist das. Außerdem können bei Hawala A und B das Codewort bereits vorher absprechen, anstatt von X eine Referenznummer zugewiesen zu bekommen.«
»Nicht einmal Referenznummern gibt es«, murmelte Eschenbach. Sprachlos saß er vor der Graphik und versuchte das eben Gehörte nachzuvollziehen. Dabei ertappte er sich ein weiteres Mal dabei, dass er den Bruder unterschätzt hatte.
»Es ist ganz einfach«, sagte John. »Jetzt hat der Hawaladar X 10000 Franken Schulden bei Hawaladar M in Karatschi. Diese Schulden werden mit den nächsten Transaktionen, die mit den Personen A und B nichts zu tun haben müssen, wieder beglichen. Diese ›Verrechnung‹ wird häufig auch im Rahmen gegenseitiger Warenlieferungen, Dienstleistungen oder
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