Rütlischwur
hypothetische Diskussion. Sie bringt uns keinen Schritt weiter.«
»Lügen sind nie hypothetisch.«
»John, Sie übertreiben es!«
Der Bruder schluckte, dann griff er zu den fünf Seiten, die – zusammengeheftet mit einer großen Büroklammer – zuoberst auf dem Papierstapel lagen. John warf einen prüfenden Blick darauf, bevor er sie Eschenbach hinstreckte.
»Was ist das?«
»Lesen Sie’s!«, sagte der Benediktiner nicht ohne Stolz. »Es ist der vollständige Polizeibericht zu besagtem Unfall aus dem Jahr 1986. Die irische Polizeibehörde hat ihn mir gefaxt.«
Eschenbachs Mund stand offen.
»Vor einer halben Stunde. Erstaunlich übrigens, was da drinsteht.«
»Sie haben …«
»Angerufen, so wie man’s macht.« John schürzte die Lippen. »Und ich habe mir Mühe gegeben, das können Sie mir glauben … mit meinem Englisch. Weil, das ist ja meine Muttersprache, und weil ein Schweizer Polizeiassistent das nicht so kann … Ich meine, so wie ich mich ausdrücken könnte.«
Eschenbach schwieg; er war bereits mit dem Lesen des Berichtes beschäftigt.
»Dann habe ich die Korrespondenz mit Ernest hervorgeholt … den Brief, in dem er das Grab von Judiths Eltern erwähnt. Die Inschrift auf dem Stein: Annie & Ch. Stiner – rasten hic inne .«
John machte eine kurze Pause. Als er sah, dass Eschenbach noch immer nicht ansprechbar war, las er den zweiten Teil des Textes nochmals vor.
» Rasten hic inne. Das ist mir gar nicht aufgefallen, damals, als ich den Brief gelesen habe. Weil der ja handgeschrieben ist – und dann liest man ganz automatisch richtig, nämlich so, wie es heißen müsste: hier inne . Aber jetzt, wo wir diesen Polizeibericht haben … Also, da habe ich nochmals nachgesehen.«
Eschenbach, der den Bericht fertiggelesen hatte, nahm sich einen Stuhl und setzte sich. Er war blass im Gesicht und starrte an die gegenüberliegende Wand.
»Und auf diesem Foto, es steckte in einem Gedichtband von Yeats, den mir Judith zum Abschied geschenkt hat … Also hier ist der Stein abgebildet, und die Schrift ist deutlich erkennbar: rasten hic inne .«
»Ihr Vater ist beim Unfall gar nicht umgekommen«, murmelte Eschenbach. Ungläubig nahm er sich nochmals die entsprechende Seite der Faxnachricht vor.
» Rasten hic inne ist ein Anagramm«, sagte John. Er nahm das vollgekritzelte Blatt Papier zur Hand. »Es sind dieselben Buchstaben, die auch in Annie & Ch. Stiner vorkommen. Und wenn man sie anders zusammensetzt … Also dann stimmen sie exakt mit dem Namen des Unfallopfers überein. Dem Namen der Frau, die im Rapport der irischen Polizei genannt wird.«
»Ich sehe es«, sagte Eschenbach leise. Er saß noch immer da, mit dem Bericht in den Händen, fassungslos. »Anne-Christine Duprey … So hieß sie ledig, bevor sie Jakob Banz geheiratet hat.«
»Banz, tatsächlich … Das ist doch der Name dieses Bankers.«
Der Kommissar nickte.
Auch John schien nun langsam zu begreifen: »Und wenn die verheiratet gewesen sind, also wenn diese Frau die Mutter von Judith ist …«
»Dann ist Jakob Banz ihr Vater«, vollendete Eschenbach den Satz.
Einen Moment schwiegen beide.
»Das ist ja unglaublich«, begann John zögerlich. »Das würde ja bedeuten, dass Judith beschuldigt wird, ihren eigenen Vater …«
Wieder legte sich eine dumpfe Stille über die beiden.
»Sie haben das alles nicht gewusst, nehme ich an.« Eschenbach sah John in die Augen. »Ich meine, wer die wahren Eltern von Judith sind.«
»Aber nein!« Der Mönch schüttelte den Kopf und griff zu einem Stapel mit Briefen. »Die hat mir Ernest geschrieben, im Laufe der Zeit. Er hat mir nie etwas davon erzählt. Im Gegenteil … Jetzt muss ich sogar annehmen, dass er es mir bewusst verschwiegen hat.«
»Dann bleibt die Frage, ob Judith es weiß.«
»Wir können sie ja fragen.«
»Nicht jetzt.« Eschenbach winkte ab. »Ich wäre froh, wenn Sie dieses Geheimnis vorläufig für sich behalten würden.«
Kapitel 20
Person A muss Hawaladar X vertrauen
D as Taxi schlich entlang des Strandwegs in Thalwil und hielt vor einem großen, massiven Eisentor.
»Hier müsste es sein«, sagte der Fahrer.
»Sind Sie sicher?« Skeptisch musterte Judith die über zwei Meter hohe Thujahecke, die wie ein mächtiger Schutzwall das Anwesen gegen neugierige Blicke abschirmte.
»Hier unten am See haben die Häuser keine Nummern. Entweder man weiß, wohin man will, oder man hat hier nichts verloren.«
»Das geht schon in Ordnung.«
Der Taxifahrer
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