Ruf der Dämmerung (German Edition)
das die Stute noch an …«
»Tu’s!«, rief Viola. »Tu’s um Himmels willen. Behalt sie im Auge! Vor Zeugen wird sie ihr nichts tun …«
Shawna und Patrick warfen ihr verwirrte Blicke zu. Alan versuchte, dem Pferd zu Fuß hinterherzulaufen, aber das war natürlich illusorisch. Shawna schwang sich auf die Scheckstute Gracie und galoppierte an.
Viola hatte inzwischen den Corral erreicht. Ohne jede Vorsicht schrie sie den grauen Hengst an. »Ahi, du musst das verhindern! Tu etwas! Es ist Ainné. Du kennst sie. Und sie ist … ich weiß, was sie in euren Augen ist, aber sie ist auch Kevins Mutter. Und mein Vater … mein Gott, es würde ihm das Herz brechen, wenn ihr etwas zustößt! Hilf uns, Ahi!«
Der Graue schien unschlüssig, die anderen Pferde unruhig. Viola wusste, dass drei der vier Kelpies in diesem Corral jetzt am liebsten sie selbst zum Grund des Sees geschleppt hätten – und die anderen Zeugen gleich mit. Sie fieberten mit Lahia. Aber Ahi …
»Ahi, es ist Familie! Du würdest auch nicht wollen, dass Ahlaya oder Hayu oder – Lahia etwas passiert!«
»Für dich. Ich tue es für dich.« Viola hörte die vertraute Stimme in ihrem Kopf.
Der graue Hengst nahm Anlauf – und musste das Tempo zurücknehmen, als sich ihm die anderen Kelpies vor dem Zaun in den Weg stellten. Ahis beagnama stieg daraufhin steil auf die Hinterhufe und biss um sich, kämpfte sich zum Zaun durch und zerschlug die Stangen mit ein paar gezielten Hufschlägen. Über die Fragmente hob es sich mit einem kräftigen Sprung und jagte dann Lahia und Gracie hinterher.
»Was läuft da, um Himmels willen?«, fragte Patrick verwirrt. »Was hast du gemacht mit diesen Teufelsgäulen?«
»Komm, hinterher …« Viola zerrte Patrick im Laufschritt über den Uferpfad. Sie hoffte nur, dass Kevin nach wie vor seinen Schutzstein trug, denn niemand kümmerte sich mehr um das Baby in seinem Wagen. Zum Glück schien das Kind zu schlafen.
Viola und Patrick rannten den Weg an der Klippe entlang und trafen nach nur hundert Metern auf den völlig erschöpften Alan.
»Ich bin … ich bin gestolpert …« Violas Dad hielt sich den Knöchel. »Ich kann nicht weiter. Aber sie sind zum See runter …«
Viola nickte. »Klar! Shawna?« Sie keuchte.
»Shawna ist hinterher. Aber der Graue hat sie überholt. Wie ist der bloß da raus …?«
»Geh zurück und pass auf Kevin auf!«, wies Viola ihn an. »Wir … wir tun, was wir können.«
Damit rannte sie weiter. Aber zu Fuß hatten sie natürlich keine Chance. Lahia jagte in Richtung der Bucht, in der die kleine Insel lag. Das Ufer war dort flach, aber dicht mit Schilf bewachsen. Bevor es für Viola und Patrick auch nur in Sichtweite kam, wäre das Kelpie längst darin verschwunden und abgetaucht. Allenfalls konnte Shawna Lahia noch erreichen – und Ahi …
Der Weg zog sich endlos hin und Viola hatte das Gefühl, ihre Lungen würden bersten und ihre Beine würden ihr den Dienst versagen. Aber irgendwann hatten sie doch das Wäldchen durchquert und die Klippe hinter sich gelassen. Vor ihnen lagen grüne Wiesen und dann das liebliche Ufer mit der Brücke und dem Inselchen im Hintergrund. So friedlich wie sonst war es hier jedoch nicht. Stattdessen kämpften zwei Pferde am Strand. Der graue Hengst stand am Ufer und versuchte, die schieferfarbene Stute mit Bissen und Huftritten vom Wasser fernzuhalten. Die wehrte sich erbittert.
Ainné klammerte sich schreiend am Sattel und an ihrer Mähne fest. »Er wird mich noch treffen! Hau ihn, Shawna, mach!«
Shawna stand, Ainnés Reitgerte in der Hand, ein paar Meter von den streitenden Pferden entfernt. Sie war offensichtlich unschlüssig, ob und zu wessen Gunsten sie sich einmischen sollte.
»Vertreib diesen verdammten Hengst!«, brüllte Ainné.
»Komm da weg, Shawna, das ist gefährlich!«, schrie Patrick.
»Hilf dem Grauen, Shawna, die Stute darf nicht ins Wasser!«
Viola rannte zum Strand.
»Wenn sie erst im Wasser ist, kriege ich sie gebändigt!«, rief dagegen Ainné. »Ich hatte sie vorhin schon fast in der Hand, aber dieser vermaledeite Graue …«
Viola verspürte widerwillig so etwas wie Respekt. Ainné war offensichtlich immer noch völlig furchtlos und überzeugt, das Pferd an den Zügel bringen zu können.
»Nun jag ihn schon weg, Shawna!«
Shawna hob unsicher die Gerte. Viola riss sie ihr aus der Hand.
»Lass ihn in Ruhe. Es ist Ahi! Und die Stute ist … Sie darf nicht ins Wasser. Sie ist ein Kelpie!«
Viola begann, verzweifelt auf Lahia
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