Ruf der Dämmerung (German Edition)
auftauchen sah. Ein dunkles Pferd schwamm wohl zunächst dem Ufer zu, aber dann erblickte es das Boot und wechselte die Richtung. Ahi runzelte die Stirn, machte eine abwehrende Handbewegung, woraufhin das Pferd unter Wasser zu verschwinden schien. Stattdessen tauchte neben dem Boot ein Mädchen auf – und Viola stockte der Atem, als sie sah, wie schön es war!
Auch dieses Kelpie hatte glattes, weiches Haar, aber länger und dunkler als Ahis, quecksilberfarben, fast ins Bläuliche spielend. Die Züge des Kelpie-Mädchens waren noch feiner als seine, das Gesicht wirkte noch aristokratischer und exotischer, zumal seine Augen einerseits schräger gestellt waren als Ahis, andererseits azurblau leuchteten. Seine Nase war klein und gerade, die Lippen tiefrot. Ansonsten war seine Haut blass und durchscheinend klar, das schien allen Kelpies zueigen zu sein, wenn sie sich in menschlicher Gestalt zeigten. Das Mädchen hatte ebenso lange Glieder wie Ahi und es wirkte – lebendiger? So, als hätte es mehr bacha aus seinem letzten Opfer gesaugt als der Junge.
»Was tust du hier, Lahia?«, fragte Ahi misstrauisch.
Das Mädchen hielt sich mit langen, schmalen Fingern am Bootsrand fest und lächelte. »Ich dachte, ich schaue mich mal um. Dort oben, in dem Anwesen, hält ein Menschenmädchen ein beagnama. Vielleicht … möchte es auch mal ein anderes reiten …«
Das Mädchen lachte und entblößte dabei kleine, erstaunlich scharf wirkende Zähne. Bei ihrem Anblick musste Viola weit mehr an ein Raubtier denken als bei dem des sanften Ahi. Und das Mädchen, von dem sie sprach, musste Moira sein, die nichts ahnend ihren Fluffy pflegte. Vielleicht würde sie seine Koppel gern für ein fremdes Pferd öffnen. Und vielleicht war sie wirklich anfällig für Lahias Lockung …
»Schon wieder, Lahia?«, fragte Ahi gequält. »Wir haben doch erst gejagt. Wir sind alle satt …«
Lahia lachte verächtlich. »Ich bin nie satt, Ahi. Aber ich habe ja auch keine menschliche Freundin, die mir so bereitwillig bacha spendet wie dieses kleine Ding da dir! Du weißt, was du riskierst, wenn du ein Kelpie reitest, Menschenkind?« Sie befeuchtete sich die Lippen. Viola musste an eine Katze denken.
»Sie riskiert gar nichts!«, protestierte Ahi und zog die Kette mit dem Amethyst unter Violas Pullover hervor. »Du weißt, dass sie geschützt ist. Also lass sie in Ruhe, Lahia!«
Lahia lachte und stieß sich spielerisch vom Boot ab. »Oh, oh, sie hat dich wohl auch schon in Ketten gelegt, Ahi … aber du weißt, was du ihr antust! Und du, Mädchen, traust dir ein bisschen viel zu, wenn du ein Kelpie zähmen willst …«
Damit schwamm sie, anmutig wie ein Delfin, ein paar Züge, um wieder in der Tiefe zu verschwinden. Gleich darauf trat eine junge, dunkelgraue Stute am Seeufer an Land und galoppierte hinauf zum Herrenhaus.
Ahi legte beruhigend die Hand auf Violas um die Sitzbank geklammerte Finger. »Das Mädchen mit dem grauen Pony ist nicht in Gefahr«, erklärte er. »An der haben sich schon andere versucht. Früher … in den Jahren, als die Menschen sich noch nicht vor Pferden fürchteten, hätten wir sie vielleicht bekommen. Aber jetzt … Sie reitet ihr eigenes Pferd und sie macht große Worte, aber sonst ist sie ängstlich. Auf ein fremdes Pferd traut sie sich nicht, so gern sie vielleicht wollte.«
»Aber … aber Lahia wird alle Register ziehen, oder?«, fragte Viola nervös.
Ahi nickte. »Sie ist nur wenig älter als ich, aber eine große Jägerin. Es ist, wie sie sagt, sie ist unersättlich. Sie giert nach bacha – sie wird überleben. Und Kinder haben …«
Viola runzelte die Stirn. »Von wem?«, fragte sie beklommen.
Ahi schaute bekümmert zum Ufer hinüber. »Sie denken an mich …«, sagte er leise. »Aber ich mag ihre Seele nicht berühren. Vergiss sie, Viola, sie wird dich nicht mögen, aber sie ist keine Gefahr für dich.«
Viola fuhr auf. »Das höre ich in der letzten Zeit ein bisschen zu oft! Kelpies sind keine Gefahr für mich, für Shawna, für Moira – aber diese Lahia strotzt vor Lebenskraft. Irgendwoher muss das wohl kommen! Und was meint sie mit ›du weißt, was du ihr antust‹?«
Ahis leises Seufzen klang wie eine melancholische Melodie. »Wir sind nicht alle gleich, Viola … und was deine bacha angeht – wir wissen es nicht genau. Aber manche sagen, wenn Menschen es uns freiwillig gäben, müssten sie früher sterben. Deshalb ist es so ein kostbares Geschenk.«
Viola sog scharf die Luft ein. »Ist ja
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