Ruf der Daemmerung
es doch offensichtlich anders geht?«
»Manchmal lassen wir jemanden entkommen«, flüsterte Ahi. »Deine ... deine Freundin, die hätte ich gehen lassen ... Selbst wenn sie aufgestiegen wäre. Um deinetwillen. Aber es ist riskant. Wenn die Menschen davonkommen, erzählen sie später von uns. Und das darf nicht zu oft passieren, verstehst du? Einmal in hundert Jahren - so entstehen die Legenden. Aber alle paar Wochen ... irgendwann würde man uns suchen ... und fangen ... und versklaven ...«
Ein Kelpie schien nichts mehr zu fürchten, als die Freiheit zu verlieren. Und dennoch rückte Ahi nun näher an Viola heran. Sie hatte ebenfalls auf dem Stein Platz genommen und hielt still, als er sich zurücklehnte und seinen Kopf leicht an ihre Schulter sinken ließ. Viola konnte nicht anders, die Geste rührte sie. Sie wünschte sich, ihren Arm um ihn zu legen und diesmal ihm zu zeigen, dass er sicher war.
Dennoch hielt sie sich zurück. Sie wollte jetzt alles wissen, sie musste alles wissen, bevor sie sich diesem seltsamen Geschöpf des Sees noch weiter auslieferte, als sie es wohl sowieso schon getan hatte. Geben und Nehmen ... Ahi und Viola hatten ihre Pfänder bereits getauscht. Sie waren verbunden, es war zwecklos, das zu leugnen.
»Und wer war das nun, mit Louise Richardson?«, fragte Viola weiter.
»Eine Verwandte«, meinte Ahi ausweichend. »Eine Frau aus dem Volk. Du hast sie schon einmal gesehen, sie kam als cremeweiße Stute, um mich zu rufen. Eigentlich um mich zu warnen - oder anzuspornen. Es ist ihre Aufgabe. Sie soll mir zeigen, wie man jagt ...«
»Das Jagen scheint ja kein Problem zu sein ...«, bemerkte Viola sarkastisch. Ob als Junge oder als Pferd - Ahis Ausstrahlung war ziemlich unwiderstehlich.
Ahi schüttelte den Kopf. »Wir sind ein friedliches Volk, Viola. Wir müssen uns alle erst überwinden, bevor wir ... es tun. Deshalb ... also deshalb ... gibt es ja die Regeln. Wir locken, wir bieten an. Wir überfallen niemanden ...«
»Louise Richardson habt ihr entführt ... «, wandte Viola ein.
Ahi lachte gequält. »Die Frau von eurem Campingplatz? Die brauchte niemand zu zwingen. Sie war ganz wild darauf, Ahlajas Kleine Seele zu besteigen. Die hätte keinen Herzschlag lang gezögert, sie zu fangen ...«
»Sie hat sich auf diese Stute gesetzt? Ohne Zaum und Zügel?«, erkundigte sich Viola.
Ahi schüttelte den Kopf. »Nicht ... äh ... ganz. Es ist so, dass die Leute ... nun, sie sehen, was sie sehen wollen. Diese Frau sah einen Sattel auf Ahlajas Rücken und zerrissene Zügel.«
Viola hatte zwar nicht viel Ahnung vom Reiten, aber dies wunderte sie nun doch.
»Und da ist sie einfach aufgestiegen? Ich meine ... normal wäre doch gewesen, das Pferd irgendwo in den Stall zu bringen und dann den Reiter zu suchen. Der muss schließlich runtergefallen sein, wenn das Pferd gesattelt in der Gegend herumrennt. Vielleicht hat er sich verletzt und liegt irgendwo ...«
Ahi lächelte. »Jetzt verstehst du es. Du hättest versucht zu helfen. Ebenso wie deine Freundin. Aber diese Frau wollte sich nur bereichern, wollte einen kostenlosen Ritt ... natürlich hätte sie hinterher gesagt, sie hätte den verletzten Reiter suchen wollen oder so was. Sie denken sich immer Ausreden aus. Aber im Grunde wollen sie nichts, als die Kleine Seele stehlen. Wir nehmen dafür die ihre ...«
Auge um Auge, Zahn um Zahn ... Viola dachte an das Bibelzitat. Eine primitive Gerechtigkeit. Die Kelpies mussten töten, um am Leben zu bleiben. Und sie suchten Gründe, sich zu rechtfertigen. Nicht gut, aber verständlich. Menschlich ... Viola konnte Ahi und seine Familie nicht mehr als Monster sehen!
»Davon gibt es aber nicht viele, oder?«, fragte Viola nach kurzem Nachdenken. »Also Leute wie ... wie Louise ...«
Ahi nickte. »Es wird schwerer«, bestätigte er. »Die Menschen haben sich bestimmt nicht verändert. Aber sie haben jetzt ... Automobile. Kaum noch jemand stiehlt Pferde, oft haben die Leute Angst vor ihnen. Deshalb gibt es auch nicht mehr viele von uns. Wir ... wir sterben aus ...«
»Ihr verhungert?«, fragte Viola entsetzt.
Ahi schüttelte den Kopf. »Nein, es gibt ja immer noch ... Seelen. Aber wir bekommen keine Nachkommen mehr. In meinem Volk bin ich der Jüngste.« Er lächelte. »Manche sagen, wir sollten unsere Gestalt ändern. Eine andere Art zu jagen ...«
»Vielleicht ein Auto mit steckendem Zündschlüssel?« Viola sprach den Gedanken aus, der ihr durch den Kopf schoss und musste unweigerlich kichern.
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