Ruf der Daemmerung
ein Hauen und Stechen, wenn wir nur ein paar Stunden zusammen unterm Baum sitzen ...«
Viola musste lachen. Aber es stimmte. Ahis Volk war extrem eng verbunden und wohl sehr aufeinander angewiesen. Vielleicht war das der Grund, warum sie so dringend versuchten, Streit zu vermeiden.
»Aber letztlich kommt es auf diesen Ali an. Er muss wissen, was er will, und er kann doch nicht ernstlich glauben, dass du demnächst Flamenco tanzt, während seine Sippe Gitarre spielt, oder was immer die da machen. Und wenn dieses Mädchen aus seinem Stamm so hübsch ist, wie du sagst, aber er macht sich gar nichts aus ihr ... Wahrscheinlich hat er sich schon ganz gezielt nach einem normalen Mädchen umgesehen. Du, der sucht nur nach einer Möglichkeit, seiner Sippe zu entkommen! Auch wenn er sich das vielleicht nicht eingesteht. Damit solltest du ihn vielleicht mal konfrontieren!«
Viola zerbiss sich die Lippen, während sie die Mail las. Wollte Ahi wirklich weg? Wollte er im Grunde von ihr gezähmt werden? Zum Menschen werden - aus Liebe oder warum auch immer? Katja hatte recht, sie musste es herausfinden. Und sie musste eine Antwort auf Ahis Frage finden. Was wollte sie von ihm?
Viola grübelte die gesamte Nacht und den folgenden Vormittag in der Schule intensiv darüber nach. Was hatte Ahi, was kein anderer Junge gehabt hatte, den sie bisher gekannt hatte? Abgesehen von seiner gewöhnungsbedürftigen Familie und der irritierenden Eigenschaft, sich seine Seele mit einem Pferd zu teilen? - Da waren seine sanfte Art, seine Vorsicht im Umgang mit ihr, der ständige Versuch, sie nicht zu verletzen. Sie fühlte sich sicher in seinen Armen, er war nicht flatterhaft und witzig wie ihr Vater, er schien ernst und mitunter gequält von zu vielen Gedanken. Viola fand sich hier in ihm wieder. Auch sie war schließlich oft übervorsichtig, überängstlich. Sie war nicht wie Ainné, sie stritt sich nicht gern. Natürlich konnte sie sich verteidigen, wenn sie musste, aber sie konnte auch gut darauf verzichten. Und Ahi würde sie niemals in die Ecke drängen. Seine Liebe war ein Angebot ... genau das war es, was ihr an ihm gefiel! Und natürlich war er einzigartig. Er redete nicht über Motorräder und rannte nicht sinnlos Bällen hinterher. Er spielte sich nicht auf und gab nicht an. Und er brauchte sie! Viola gestand es sich ungern ein, aber es gefiel ihr, Ahi von ihrer Lebenskraft abzugeben und dafür diese tröstliche Gemeinsamkeit zu erleben. Diese Verschmelzung ihrer Seelen, die keine Geheimnisse kannte. Ahi würde sie nie belügen und betrügen. Viola empfand tiefste Zuneigung, wenn sie an ihn dachte, Ekstase, wenn sie ihn berührte. Es war nicht die Verliebtheit, die Katja ihr oft in glühenden Worten beschrieb. Viola vermutete, dass es Liebe war.
Es würde schwierig sein, Ahi das alles zu erklären. Aber das musste sie ja gar nicht! Sie beschloss, den Versuch zu wagen, ihm einfach ihren Geist zu öffnen. So wie er ihr Bilder von seiner Zeit als Kind und als Fohlen gezeigt hatte.
Aber am Tag nach ihrem Ausflug in den See blieb er dem Bootshaus fern.
»Tut mir leid, aber ... aber mein Volk wünschte, dass ich bei ihnen bleibe ...«, sagte Ahi mit gesenktem Kopf, als er am nächsten Abend wieder auf Viola wartete. Er wagte offensichtlich nicht, ihr die Hände entgegenzustrecken. Vielleicht fürchtete er ihren Zorn - oder hatte seine Familie es ihm verboten?
»Ein paar von uns ... empfanden die Harmonie als gestört. Wir - mussten uns erneut einstimmen. Indem wir gemeinsam sangen ...«
»Lahia und Co. mögen das singen nennen«, unterbrach Viola. »Bei uns heißt es ›nach ihrer Pfeife tanzen‹! Ich glaube, sie haben mich mit Absicht attackiert. Jetzt habt ihr einen gemeinsamen Feind, der euch nur noch stärker zusammenschweißt.«
Ahi seufzte. »Ich kann es nicht ändern, Viola«, flüsterte er. »Es ist mein Leben. Das Volk ist meine Bestimmung.«
Viola ergriff seine unglücklich und schlaff herabhängenden Hände. Sofort spürte sie bacha überströmen und in seinen schönen, heute das Blaugrau des Sees an einem wolkigen Tag widerspiegelnden Augen flackerte eine Art Feuer auf.
»Du kannst es durchaus ändern, Ahi!«, sagte sie. »Deine Lahia hat es selbst gesagt: Ich habe bacha für zwei! Wenn du keine Lust hast, dauernd nur Harfe zu spielen und dich zwischendurch vor der Jagd zu drücken, wegen der du obendrein ständig ein schlechtes Gewissen hast, dann versuch es doch einfach mal über Wasser! Bleib bei mir, Ahi! Leb
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