Ruf der Daemmerung
einen ein, nimmt einen gefangen ...«
Ahi lächelte. »Gibt es süßere Fesseln als die der Musik?«, fragte er leise.
»Fesseln sind niemals süß«, erwiderte Viola ernst. »Bist du es nicht, der immer von Freiheit spricht? Aber deine Familie hält dich ganz fest an der Angel - oder am Zügel, das passt bei Kelpies vielleicht besser.« Viola versuchte zu scherzen, aber Ahi lauschte nur mit angstvoll geweiteten Augen.
»Aber niemand befiehlt mir etwas ...«, wandte er ein.
Viola verdrehte die Augen. »Mensch, Ahi, hast du noch nie was von Manipulation gehört? Natürlich wenden sie keine Gewalt an. Das läuft ganz subtil. Über ihre Musik, ihre Harmonie, die sie unbedingt aufrechterhalten wollen, auch wenn man das Gefühl hat, sie würden am liebsten übereinander herfallen. Himmel, Ahi, macht diese dauernd beschworene Harmonie dich nicht wahnsinnig?« Viola setzte sich auf und sah ihn mit blitzenden Augen an. »Möchtest du nicht manchmal einfach losschreien und dich streiten, bis die Fetzen fliegen?«
Ahi sah sie verständnislos an. »Wir streiten nie«, sagte er dann. »Nur ... nur jetzt, als du da warst ... Warum hast du dich mit ihnen gestritten, Viola?«
Viola hätte ihn am liebsten geschüttelt. Ahi war sonst so sensibel, aber was zwischen ihr, Lahia und Ahlaya abgegangen war, hatte er überhaupt nicht begriffen.
»Ich habe mich nicht gestritten, Ahi. Ich habe mich nur gewehrt. Mensch, Ahi, deine Leute haben mir unterstellt, ich hätte dich - gejagt!« Vielleicht verstand er ja besser, wenn sie Vergleiche aus seiner Welt anstellte. »Lahia tut, als hätte ich dir aufgelauert, dir hinterrücks meine bacha aufgedrückt, und jetzt wollte ich dich an Land zerren und verspeisen.«
Ahi lachte beklommen. Aber Viola würde jetzt sagen, was gesagt werden musste.
»Ahi, wenn das mit uns gut gehen soll, müssen wir unsere Umgebung dringend davon überzeugen, dass keiner von uns beiden den anderen fressen will! Und vielleicht überlegst du dir, was du von mir willst. Doch bestimmt nicht, dass ich die dritte Stimme in eurem Konzert übernehme, oder?« Viola stand auf. Es wurde Zeit, nach Hause zu gehen. Vielleicht war ihr Vater ja noch in Dublin, aber wenn er zurückkam, würde er sich fragen, was sie im Regen am See machte.
Ahi kaute auf seiner Lippe. »Was ... willst du denn von mir?«, fragte er leise.
Viola wusste keine Antwort.
11
Alan McNamara war noch nicht zurück, als Viola heimkam. Das war einerseits gut, weil sie in Ruhe ein Bad nehmen und sich nach dem Rückweg durch den Regen aufwärmen konnte. Aber andererseits hätte sie gern mit jemandem gesprochen. Wenn schon nicht über die aufwühlenden Erlebnisse dieses Nachmittags, so doch über irgendetwas Alltägliches. Über Kevin und Ainné oder über den Campingplatz - auf jeden Fall nicht über Kelpies und Menschen und ihre seltsame, zerbrechliche Beziehung.
Schließlich setzte sie sich an den Computer und schrieb an Katja. Vorsichtig, immer bemüht, sich ja nicht zu verraten, schilderte sie ihren Besuch bei der Familie ihres Tinker-Freundes Alistair. Sie erzählte, dass man dort die Tage mit Tanzen und Musizieren verbrachte und nur das Mindeste an Arbeit leistete. Dass man sie halbwegs freundlich aufgenommen habe, aber doch argwöhnte, sie wollte Ali in die Welt der Sesshaften hinüberziehen.
»Es war einerseits schön, aber andererseits auch nervig. Wie so ein Lebenshilferatgeber: Mach ein bisschen Musik, denk positiv und alles wird gut. Aber ich könnte nicht so dahinleben, ich meine - man hat doch so was wie ein Ziel, oder? Und dann, wie sie miteinander umgehen - immer total freundlich, aber darunter brodelt es. Die Stammesältesten - ich weiß, das klingt verrückt! - scheinen überhaupt keinen Streit zu dulden, aber natürlich gibt es trotzdem Meinungsverschiedenheiten. Und Ali hat es bestimmt nicht leicht, jetzt, wo er mit mir zusammen ist.«
Katja antwortete umgehend. »Komische Typen. Vor allem - also Tinker sind doch an sich so was wie Zigeuner, nicht? Sollen die nicht eher aggressiv sein? Ich denk da noch an letztes Jahr, diese Oper ...« Katjas und Violas Musiklehrer hatte die ganze Klasse in Carmen geschleppt. »Das Mädchen da haut doch ständig um sich, aus den nichtigsten Gründen. Na ja, ist ja nur eine Oper. Aber die Leute von deinem Alistair wollen sich nicht streiten? Merkwürdig. Zumal wenn man so eng aufeinanderhockt. Eine Sippe in zwei oder drei Wohnwagen - also bei unserer Familie gibt es schon jedes Jahr zu Weihnachten
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