Ruf der Daemmerung
einen seltsamen Rhythmus auszudrücken schienen. Viola dachte an die Kräuselwellen, die der See an sonnigen, aber windigen Tagen schlug. Der Kunstlehrer war hell begeistert. Die Mädchen ebenfalls, die Jungs feixten - und straften den seltsamen Neuling mit Missachtung. Viola hoffte, dass es dabei blieb. Wenn Mike und seine Freunde über Ahi hinwegsahen, war das kein Problem. Er durfte nur nicht zur Zielscheibe ihres Spotts werden.
Nun stieg sie am Campingplatz aus, während Ahi Shawna begleitete. Offiziell wohnte er schließlich bei ihren Eltern.
Viola wollte ihn später im Wohnwagen treffen.
Jetzt wurde sie aber erst mal von Guinness stürmisch begrüßt, um den sich nach wie vor niemand richtig kümmerte. Ainné und Kevin waren immer noch im Krankenhaus und Violas Dad besuchte sie praktisch ganztags. Insofern war im Moment auch nur Bill zu Hause und hatte sich gerade ein Sandwich geschmiert. Er schob Viola Brot und Aufschnitt zu, aber die griff zum Käse. Ahis Gerede von den Kleinen Seelen machte ihr langsam ein schlechtes Gewissen. Wenn das so weiterging, wurde sie auch noch zum Vegetarier!
Bill bemerkte das gleich. »Du bist zu viel mit Shawna zusammen ...«, grummelte er. »Wirst noch ihre ganzen Ticks übernehmen ... Wo steckt das dumme Ding überhaupt? Heute Morgen war sie zum Füttern nicht da - dabei muss ich was mit ihr besprechen. Diese wilden Ponys am See, ich seh sie immer öfter. Irgendwann muss sie mir mal helfen, die Biester einzufangen. Sind zum Teil ganz hübsch ...«
Viola fuhr der Schreck in die Glieder. »Aber ... aber wenn sie doch wild sind?«, gab sie zu bedenken. »Dann kann man sie doch nicht reiten ...«
Bill lachte. »Wetten, dass die kleine Shawna nur drauf brennt, mir die Viecher einzureiten?«, behauptete er. »Und wenn nicht, ist es auch egal, die erzielen selbst roh einen ganz guten Preis. Gestern hab ich so 'n Grauschimmel gesehen ...«
Viola biss sich auf die Lippen. Einen Grauschimmel? Womöglich Ahi? Aber der wollte sich doch nicht mehr verwandeln! Ob Lahia als Grauschimmel durchging? Viola schlang ihr Käsebrot eilig herunter und verzog sich dann zu Ahis Wohnwagen. Eigentlich konnte er noch nicht wieder da sein, zu Fuß brauchte man eine halbe Stunde vom Lovely View bis zum Campingplatz. Aber zu Violas gleichzeitiger Sorge und Erleichterung saß er bereits auf seinem Bett und brütete über einem Mathematikbuch. War er den Weg buchstäblich heruntergaloppiert?
»Wozu ist das gut?«, fragte er und deutete auf eine Gleichung. Aber dann spürte er Violas Erregung.
»Komm zu mir!«, sagte er leise und Viola schmiegte sich in seine Arme. Sie meinte, endlich wieder frei atmen zu können, als er sie liebevoll an sich zog. Bisher hatte sie den ganzen Tag unter Spannung gestanden - aus Angst vor seinem möglichen Versagen in der Welt der Menschen, aber auch, weil er ihr so nahe war und doch keine Möglichkeit bestand, auch nur seine Hand zu halten. Jetzt schloss sich der Kreis um sie beide wie selbstverständlich. Viola wurde erneut von Glück und Sicherheit erfüllt, fühlte aber auch, dass Ahi bacha von ihr nahm. Wieder einmal waren sie eins - ihre Seelen öffneten sich einander und sie genoss sein Streicheln und die Küsse, die er leicht wie der Wind auf ihr Gesicht hauchte, bis sie ihm ihre Lippen öffnete und seine unbändige Freude darüber teilte. Viola fühlte ihren Körper glühen und auch von Ahi schien ein sanftes Licht auszugehen. Alle Zweifel und Ängste fielen von ihr ab.
Aber Ahi hatte sie dennoch erspürt. Als sie sich voneinander lösten und Viola seufzend nach dem Mathebuch griff, schüttelte er den Kopf. »Ich war es nicht, Viola«, erklärte er. »Ich habe die Kleine Seele nicht gerufen, weder gestern noch heute. Ich bin einfach nur schnell gelaufen, ich wollte bei dir sein. Deshalb war ich schon wieder hier. Dein - Großvater? - wird andere von meinem Volk gesehen haben. Sie sind unruhig, ich spüre sie singen. Sie suchen mich, aber es wird auch wieder Zeit für die Jagd. Und es ist nicht leicht in den Monden, in denen der Regen fällt und das Gras nicht wächst ...«
»Winter, Ahi, man nennt das Winter«, berichtigte Viola. »Aber dir geht es doch gut, nicht wahr? Du brauchst kein neues bacha?« Sie sah ihn forschend an. In den Wochen vor der letzten Jagd hatte er müde und krank ausgesehen, aber zurzeit wirkte er kräftig und wach.
Ahi nickte. »Aber ich ängstige mich, ich fürchte, ich beraube dich ...« Er spielte mit ihrem Haar. Sie wusste
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