Ruf der Daemmerung
Schwuchtel, und Hank stellte Ahi sogar ein Bein, als er aus dem Bus stieg. Ahi bemerkte das allerdings gar nicht. Mit der Anmut des geborenen Tänzers wich er dem Hindernis unbewusst aus und lächelte Hank sogar an.
Shawna und Viola deuteten die Episode jedoch richtig und beide begannen, sich Sorgen zu machen.
»Wobei ich das Schlimmste noch abgewendet habe«, verriet Shawna Viola auf dem Mädchenklo. »Im Andenkenladen verkaufen wir doch Leprechaun-Figuren - du weißt schon, diese Kobolde - in Schneekugeln. Die hab ich Alistair gestern gezeigt, um ihm sozusagen Bonzi O'Brien vorzustellen, und er wollte gleich eine mitnehmen und sie Mike schenken! Das hielt er für eine nette Art, sich zu entschuldigen. Mike hätte ihn erschlagen! Sag mal, findest du nicht, dass Ali manchmal ein wenig ... hm ... unbedarft ist? Ich meine, Dänemark liegt bestimmt ein bisschen abseits, aber so aus der Welt kann es doch auch nicht sein, dass er gar nicht kapiert, was vorgeht! Typen wie Mike und Hank gibt's doch wohl überall!«
Viola konnte dem nur zustimmen. Ahi musste unbedingt lernen, besser mit der Welt zurechtzukommen. Vor Shawna schob sie seine Probleme erst mal auf die Fremdsprache. »Ich weiß, er spricht gut Englisch, aber ich denke ihm fehlt ...
etwas das Gefühl für Zwischentöne. Das geht mir auch manchmal so ...«
Shawna runzelte die Stirn. »Also so subtil bringt Mike seine Gefühle aber nicht rüber«, bemerkte sie. »Im Gegenteil - eigentlich versteht man den auch ohne Worte!«
Worte waren es eigentlich nicht, die Ahi fehlten. Im Gegenteil, Mrs Murphy war bass erstaunt, wie schnell er die ersten Sätze Gälisch sprach. Viola wunderte das auch, aber dann ging ihr auf, dass viele gälische Worte der Sprache der Amhralough ähnlich waren. Lough hieß wohl in beiden Sprachen See, und auch andere Worte wie beag für klein fanden sich wieder.
Ahi und Mrs Murphy waren nach einer halben Stunde beste Freunde, während Viola sich wünschte, ihr Freund hätte sich wenigstens ein bisschen dummgestellt. So war es wieder sie, die vermitteln musste. »Ich glaube, Dänisch und Gälisch sind sich einfach ein bisschen ähnlich ...«, behauptete sie, woraufhin Mrs Murphy die Stirn runzelte.
»Ja? Aber Dänisch muss doch eine germanische Sprache sein, und die hat mit dem Keltischen so gar nichts zu tun. Eigentlich gibt es überhaupt keine verwandten Sprachen, allenfalls das Baskische ...«
»Ich meinte natürlich den örtlichen Dialekt«, verbesserte sich Viola schnell. »Da in der Ecke von Jütland, aus der Alistair kommt. Das ... das Land ist wohl von irischen Mönchen christianisiert worden.« Der Einfall erwies sich als goldrichtig. Die rege Missionstätigkeit irischer Mönche im frühen Christentum, deren Reisen sie sogar bis Amerika geführt hatten, gehörte zu Mrs Murphys Lieblingsthemen. Viola hatte zwar keine Ahnung, ob davon auch Dänemark betroffen gewesen war, aber es konnte durchaus sein. Mrs Murphy jedenfalls strahlte programmgemäß auf. Wieder eine umschiffte Klippe! Aber langsam fühlte sich Viola gestresst und müde. Hoffentlich verlief wenigstens der Musikunterricht ohne Extraeinlagen! Ansonsten standen an diesem Tag fast nur naturwissenschaftliche Fächer auf dem Programm, und die schienen Ahis menschliche Seite anzusprechen. Er lauschte interessiert und lernwillig, stellte aber keine absonderlichen Fragen und fiel auch sonst nicht auf.
In Musik war das natürlich anders. Miss O'Keefe begrüßte den neuen Schüler herzlich, wie es ihre Art war, und freute sich an seinem Interesse an ihrem Instrument. Sie erlaubte ihm, die Harfe kurz anzuschlagen, und Viola betete, dass er keine ganze Symphonie spielte. Das ließ er zum Glück, begeisterte Miss O'Keefe aber gleich darauf durch seine Singstimme. Sie ließ ihn erst Töne singen und dann eine einfache Klangfolge. Ahi traf jeden Ton exakt und füllte den Raum - und die Seelen der Zuhörer! - mit seiner weichen und ungeahnt kräftigen Stimme, die mühelos drei Oktaven umfasste. Violas Herz klopfte nicht nur vor Nervosität über seine Einführung bei Miss O'Keefe, sondern auch, weil sie schon das einfache Lied, das er anschließend vortrug, in die Verschmelzung mit seiner Seele zog. Sie hatte das Gefühl mitzusingen und spürte fast körperlich, wie auch Miss O'Keefe und die anderen Schüler in den Kreis drängten. Die Lehrerin summte die Melodie dann tatsächlich mit - es handelte sich um ein dänisches Volkslied, das Viola im Internet gefunden und mit Ahi
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