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Ruf der Drachen (German Edition)

Ruf der Drachen (German Edition)

Titel: Ruf der Drachen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yalda Lewin
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ich es erst für eine Illusion, doch bei näherem Hinsehen war ich mir sicher, einen Schriftzug entdeckt zu haben. Mit vor Aufregung zitternden Fingern strich ich darüber. Tatsächlich! Dort stand etwas, eingraviert in eine eisig kalte Platte aus Marmor.
    Ich tastete nach dem Feuerzeug, das ich immer bei mir trug, für den gar nicht so seltenen Fall, dass eine hübsche Frau in meiner Nähe einmal Feuer für eine Zigarette benötigte. Einmal mehr erwies es sich als außerordentlich hilfreich. Ich entzündete die Flamme und hielt sie so dicht an die Wand, dass ich die Schrift entziffern konnte.
    Mir stockte der Atem.
    Wie oben, so unten. Du hast mich gefunden, werter Freund, und verdienst nun mehr zu erfahren.
    Ein Land, in dem nichts bleibt, wie es war. Der Kern der Stadt im Visier. Die Anzahl der Speier und ihr innerstes Geheimnis bringen dich zum Tag der Erschütterungen. Bist du schnell genug, um die Warnung ans Licht zu tragen? Die Zeit drängt.
    Neben der Schrift prangte das Symbol der achtstrahligen Sonne.
    Ich stand einen Moment reglos da, fast erschüttert von der Klarheit, die mich plötzlich überkam. Ja. Auch an diesem Wasserspeier gab es ein Geheimfach. Es war nur viel größer als ich vermutet hatte. Und ich war mitten hineingeraten.
    ***
    Die Wanderung durch die Finsternis schien Ewigkeiten zu dauern. Mit nicht mehr als dem kleinen Licht meines Feuerzeugs, das ich nur in unregelmäßigen Abständen entzünden konnte, um mir nicht die Finger zu verbrennen, wanderte ich durch die geheimen unterirdischen Tunnel, immer in Erwartung einer grausigen Entdeckung. Wer konnte schon wissen, zu welchem Zweck diese Gänge angelegt worden waren? Und von wem? Das Wissen, dass ich mich direkt unter einem Friedhof befand, machte es nicht gerade angenehmer. Jeden Moment erwartete ich, Überreste zu finden, und zweimal glaubte ich sogar, Untote aus den Schatten abzweigender Gänge aufsteigen zu sehen. Das Ergebnis einer zu regen Fantasie. Schatten werden lebendig, wenn man zu lange allein ist … Auch viele Jahre nach Ende der Kindheit.
    Doch nichts passierte. Ich folgte dem Hauptweg weiter und weiter, bis ich schließlich in einiger Entfernung Tageslicht in den Gang hineinschimmern sah. Als ich näherkam, stellte ich fest, dass das Licht durch die Löcher eines alten Gullideckels fiel. An irgendeinem Punkt war der Gang in einen Seitenarm der Berliner Kanalisation übergegangen. Da es länger nicht geregnet hatte, war mir das zunächst gar nicht aufgefallen, doch jetzt realisierte ich auch die gemauerten Wände aus tiefrotem Backstein, die den Gang zu einer fast vollkommenen Röhre erweiterten.
    Eine kleine Treppe führte zum Gulli hinauf, sodass ich ihn problemlos erreichen konnte. Ich verharrte einen Moment direkt darunter und lauschte angespannt. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Ich wusste nicht einmal, ob ich mich noch im Ostteil von Berlin befand oder ob der geheime Gang vielleicht auf wundersame Weise eine Verbindung zwischen den getrennten Teilen der Stadt bildete. Das allerdings wäre eine Sensation, auf die ich kaum zu hoffen wagte.
    Ich wartete einige Minuten, doch ich hörte nur das leise Geräusch meines eigenen Atems, spürte nur meinen beschleunigten Herzschlag wie einen stets anwesenden Beobachter. Schließlich beschloss ich, es zu riskieren. Ich konnte nicht ewig hier unten ausharren.
    Als ich den Blick zur Seite wandte, stutzte ich. Direkt neben der Öffnung des Gullideckels fand sich eine weitere kleine Marmorplatte. Doch statt der achtstrahligen Sonne oder einer weiteren Nachricht zeigte sie ein Symbol, das ich während meiner Suche bisher noch nicht gesehen hatte. Es war ein Kreis, in dessen Mitte sich ein Punkt befand. Ich wusste, dass dieses Symbol in allen Kulturen für die Sonne stand. Und es musste eine Bedeutung haben, dass der Verfasser der Nachrichten es ausgerechnet hier platziert hatte. War dies der Hinweis, der mich zum nächsten Wasserspeier führte?
    Ich blickte erneut nach oben. Einige Sonnenstrahlen bahnten sich den Weg durch die Löcher des Gullideckels und wirkten auf mich so verlockend wie das Licht von hell erleuchteten Gaslaternen auf einen Nachtfalter. Erst einmal musste ich hier raus. Danach konnte ich in Ruhe überlegen, was mir diese Nachricht sagen sollte.
    Vorsichtig stemmte ich meine Handflächen von unten gegen das schwere Metall und bewegte den Deckel zeitgleich einige Zentimeter nach oben und ein wenig zur Seite, bis ich einen Blick nach draußen erhaschen konnte. Ein

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