Ruf der Drachen (German Edition)
setzte mich auf einen Stein am Rande des Mausoleums und betrachtete mein Werk, das nun unter den beiden anderen Notationen das Blatt füllte. Ein dritter Rhythmus, der mit den bisherigen nichts zu tun zu haben schien. Und doch musste es einen Zusammenhang geben! Hätte sonst der unbekannte Verfasser der Nachricht so explizit darauf hingewiesen? Was, wenn nicht ihr Plätschern, könnte die Sprache der Wasserspeier sein?
Ich unterdrückte ein Fluchen. Es war zum Verzweifeln! Je mehr Spuren ich fand, desto weniger schien sich das Rätsel zu lösen und desto mehr verwirrte sich alles in meinem Kopf.
Erst jetzt merkte ich, wie angespannt ich die ganze Zeit über war. Die Muskeln in meinem Nacken waren starr wie bei einer Gliederpuppe und ich fühlte mich plötzlich sehr erschöpft. Ich ließ das Blatt mit den Noten sinken, schloss die Augen und massierte mir den Nasenrücken, während meine Gedanken unablässig weiterkreisten. Es war ein Puzzle und ich musste die restlichen Teile finden, wenn all das hier überhaupt jemals Sinn ergeben sollte. Mir blieb einfach nichts anderes übrig, als weiterzumachen.
Ich steckte das schon leicht zerknitterte Blatt wieder in meine Hosentasche, richtete mich auf und untersuchte den kleinen Drachenkopf. Er war so weit oben am Mausoleum angebracht, dass ich mich strecken musste, um ihn abtasten zu können. Meine Fingerspitzen glitten über das furchige Metall – und auch hier fand ich die Gravur der achtstrahligen Sonne. Es überraschte mich nicht. Der alte Mann hatte recht behalten.
Ich ließ die Hand sinken und betrachtete den Drachen mit gerunzelter Stirn.
»Na los, sag schon«, murmelte ich vor mich hin, »wo ist das Geheimfach?«
Gab es eines? Oder einen anderen Hinweis, der mich weiterbrachte? Die Speier hatten den Berliner Südwesten abgedeckt, den Südosten, den Norden und den Nordosten. Was war mit den anderen Richtungen, mit den restlichen Strahlen der Sonnengravur? Gab es eine bestimmte Reihenfolge, nach der ich vorgehen musste, um das Puzzle zu lösen? Und würde mich dieser Speier direkt weiterführen?
Mein Blick fiel auf einen Vorsprung am Hals des Drachen. Ich verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Das sah aus wie … ein kleiner Hebel!
Neugierig streckte ich mich, drückte mit dem Zeigefinger dagegen, ein leises Klicken ertönte – und der Boden unter meinen Füßen gab nach.
Ich fiel, fiel – dann nahm mir der Aufprall den Atem. Ein schneidender Schmerz jagte mir durch den Rücken und für einen Moment japste ich nach Luft, während sich etwa zwei Meter über mir knarrend die verborgene Klappe wieder schloss. Dämmerung umgab mich, nur durch einen Spalt drang ein wenig Tageslicht. Scheiße!
Ich hatte durch die Berührung des Hebels eine unter dem Laub verborgene Falltür ausgelöst. Stöhnend rappelte ich mich auf und klopfte mir den Schmutz von der Hose. Als sich meine Augen an die Dämmerung gewöhnt hatten, stellte ich fest, dass ich mich in einem Gang befand. Die Wände waren sorgfältig geglättet worden und der Gang war so hoch, dass ich bequem darin stehen konnte. Wer auch immer ihn zu welchem Zweck auch immer gebaut hatte – die Erschaffer hatten sich Mühe gegeben.
Ich tastete an den Wänden entlang, auf der Suche nach einer Leiter oder eingehauenen Stufen. Doch da war nichts. Leichte Übelkeit stieg in mir auf. Es gab keinen Weg nach oben!
Nachdenken, Jakob. Du musst nachdenken!
Die Lage war ernst, denn die Klappe über mir war nicht zu erreichen. Es gab ganz offensichtlich nichts, worauf ich klettern, nichts, woran ich mich hochziehen konnte.
Ich atmete tief durch und versuchte mich zu sammeln, während ein leichtes Zittern sich aus meinem Inneren auf meine Hände übertrug. Meine Handflächen wurden innerhalb von Sekunden schweißnass.
Ganz ruhig! Wie kommst du hier wieder raus?
Sollte ich um Hilfe schreien? Höchstwahrscheinlich war das sinnlos, wer sollte mich in diesem verfallenen Teil des Friedhofs schon hören? Ich wusste ja nicht einmal, ob außer dem merkwürdigen alten Mann überhaupt jemals andere Menschen herkamen.
Ich musterte den Gang, der sich nur wenige Meter von mir entfernt in tiefstem Schwarz verlor. Mir wurde ein wenig flau bei dem Gedanken, in diese Dunkelheit hineintauchen zu müssen, doch es gab keine andere Möglichkeit. Wenn ich hier wieder herauskommen wollte, dann musste ich den zweiten Ausgang finden. Wo auch immer der sich befand …
Mein Blick fiel nochmals auf die Wand neben mir. Im dämmrigen Licht hielt
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