Ruf der Drachen (German Edition)
Trauerhalle einbiegen, ein letztes Mal sich umdrehen und mir zunicken – dann entzog er sich meinem Blick.
Ich stand noch einen Augenblick wie erstarrt. Wer war das gewesen? Ein Rabbiner? Oder nur ein Besucher des Friedhofs, so wie ich?
Ohne nachzudenken rannte ich zu den Arkaden hinüber, bog um die Ecke – doch der Gang lag verlassen vor mir. Keine Spur mehr von dem alten Mann. Und alle Türen, an denen ich rüttelte, waren verschlossen.
Ich biss mir auf die Unterlippe. Es machte keinen Sinn, weiterzusuchen. Vielleicht war es am besten, dem Hinweis zu folgen, den der Alte mir gegeben hatte. Von dem Punkt, an dem wir uns getroffen hatten, drei Kreuzungen weiter auf dem Hauptweg, dann nach links. Und schließlich auf das Herz hören …
Kopfschüttelnd folgte ich der Anweisung. Auch wenn ich nur wenig Hoffnung hatte, dass diese Worte mir wirklich weiterhelfen würden, so wurde ich doch das Gefühl nicht los, dass der alte Mann genau gewusst hatte, wovon ich sprach. Und wonach ich suchte. Die ganze Sache wurde immer mysteriöser und irgendwie gefiel mir das nicht.
Mit jedem Schritt, den ich weiterging, über mir das leise Rauschen des Blätterdaches, unter mir erstes knisterndes Laub, schien mein Herzschlag lauter und eindringlicher zu werden. Ich bog an der beschriebenen Kreuzung in einen überwucherten Weg ein, der zu beiden Seiten von mächtigen Mausoleen gesäumt war. Die Säulen ragten verwittert in die Höhe, einige der ehemals prächtigen Dächer waren eingestürzt und doch hatte keines der alten Grabmale seine eindrucksvolle Wirkung verloren. Majestätisch schienen sie allem zu trotzen. Der Zeit, dem Tod, dem Wandel der Welt. Es war eine surreale Landschaft des Verfalls, der eine ureigene Schönheit innewohnte.
Plötzlich begann mein Herz zu stolpern. Einmal, zweimal, dreimal polterte es in ruckartigen Sprüngen gegen mein Brustbein. Ein leichter Schwindel erfasste mich. Ich blieb stehen, legte eine Hand an meine Brust und rang nach Luft, während ich versuchte, ruhig zu bleiben. Doch mein Herzschlag ließ sich kaum bändigen.
War es das, was der Alte gemeint hatte? Dem Herzen lauschen? Ich hatte es mir weniger beängstigend vorgestellt! Was, wenn ich jetzt hier auf dem verfallenen Friedhof zusammenbrach? Niemand würde mich finden!
Nur langsam beruhigte sich das Hämmern in meinem Oberkörper und die Beklommenheit ließ nach. Während ich noch überlegte, einfach wieder umzudrehen und diesen unheimlichen Ort schnellstmöglich zu verlassen, fiel mein Blick auf ein Mausoleum links von mir. Wie ein Schleier hatte sich das dichte grüne Blattwerk des Efeus über Steine und hebräische Inschriften gelegt. Doch etwas anderes weckte meine Aufmerksamkeit: das Geräusch von Wasser!
Hier gab es keinen Fluss, keinen See, keinen Brunnen. Und geregnet hatte es auch nicht. Trotzdem drang leises Plätschern an mein Ohr.
Fasziniert machte ich einen Schritt auf das Mausoleum zu. Das Dach wurde von schlanken Säulen getragen, eine aus dunklem, die andere aus hellem Marmor. Ich sah, dass die Rückwand des Grabmals mit einem bunten Mosaik verziert war, so verfallen, dass die Abbildungen kaum noch zu erkennen waren. Ich trat vor und schob den Efeu zur Seite. Das Bild eines Baumes, der Granatäpfel trug, kam zum Vorschein. Unter der üppigen Krone befanden sich Marmorplatten, auf denen einmal die Namen der hier Begrabenen eingemeißelt gewesen sein mussten. Die Schrift war zu verwittert, um sie zu entziffern. Doch etwas anderes zog mich augenblicklich in den Bann.
Ich schob die Efeuranken noch weiter zur Seite, dem Geräusch des Wassers folgend, und entdeckte einen kleinen Drachenkopf. Silbrig glitzerte er unter dem dunklen Blattwerk des Efeus hervor. Der Wasserspeier. Ich hatte ihn gefunden!
Es dauerte nur Sekunden, bis mir klar wurde, dass sich auch hier eine ganz eigene Rhythmik zeigte, viel auffälliger und präsenter als bei den bisherigen Wasserspeiern. Doch an diesem verlassenen Ort, in einem wahren Dschungel aus Bäumen und Büschen, war dieses Geheimnis gut versteckt.
Ich zückte Notenpapier und Stift und begann einmal mehr damit, den Rhythmus aufzuschreiben. Er war nicht besonders kompliziert, aber dennoch deutlich länger und aufwendiger als die Rhythmen der bisherigen Speier. Zwei Achtelnoten, gefolgt von einer Halben. Pause. Dann eine längere Folge von sechs mal vier Achtelnoten, gefolgt von jeweils einer Halben. Und schließlich eine lange Pause, bis der Rhythmus sich von Beginn an wiederholte.
Ich
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