Ruf der Drachen (German Edition)
dass mir auch wirklich niemand folgte. Doch konnte ich sicher sein? Wieso war ich plötzlich interessant geworden für Menschen, die ich nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte? Vielleicht war der Mann am Märchenbrunnen doch von der Staatssicherheit gewesen? Und falls das zutraf, so würde ich mich nicht auffälliger präsentieren als unbedingt nötig. Ich sah mir lediglich interessante Teile Ostberlins an.
Die Beklemmung blieb ein präsenter Gefährte, während ich unter den ausladenden Baumkronen des überwucherten Friedhofs entlangwanderte. Mitten in einem Feld aus umgestürzten Grabsteinen blieb ich stehen und blickte mich um. Keine Frage, ich brauchte einen Plan. Der Friedhof war viel zu groß, um ihn einfach so abzusuchen und zu hoffen, dass ich zufällig einen Wasserspeier entdecken würde – und dass dieser dann auch noch der sein würde, der mir weiterhelfen konnte!
Hatte es am Märchenbrunnen vielleicht noch einen weiteren Hinweis gegeben, wo genau der Speier sich befand? Ich konnte mich nicht erinnern. Da waren nur die Menora, der hebräische Hinweis und der nach Norden deutende Sonnenstrahl. Sonst nichts.
Seufzend strich ich mir die Haare zurück und ließ den Blick über die endlos scheinenden Gräberfelder schweifen. Dieser Friedhof war ein Wald. Ein Gebiet, das sich die Natur über viele Jahrzehnte zurückgeholt hatte. Was ich suchte, konnte überall und nirgends sein.
Wenn du eine Botschaft zu verstecken hättest und du wüsstest, jemand macht sich hier auf die Suche – welchen Platz würdest du wählen?
»Kann ich helfen?«
Eine Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich drehte mich um und blickte direkt in das Gesicht eines alten Mannes. Er trug einen tadellos gebügelten schwarzen Anzug, die traditionelle Kippa auf schlohweißem Haar und hatte den Blick freundlich auf mich gerichtet. Unzählige Lachfältchen hatten sich um seine blitzenden Augen eingegraben.
»Ich … weiß nicht recht«, antwortete ich überrumpelt. Ich hatte geglaubt, vollkommen allein zu sein. Nun so plötzlich angesprochen zu werden, traf mich wie aus dem Nichts.
»Suchst du etwas Bestimmtes? Ich kenne den Friedhof wie meine Westentasche.« Der Mann lächelte. »Habe schon als kleiner Junge hier gespielt. Lang ist das her.«
Ich zögerte einen Moment, dann beschloss ich, die Chance zu nutzen. Alleine würde ich wahrscheinlich Jahre brauchen, um den Wasserspeier zu finden – wenn überhaupt. Ich konnte ja nicht einmal sicher sein, dass ich auf dem Friedhof tatsächlich richtig war. Es handelte sich nur um eine Vermutung.
Kurzerhand zog ich das Notenpapier aus der Tasche, auf dem ich auch das Symbol der achtstrahligen Sonne aufgezeichnet hatte. »Haben Sie das hier schon einmal gesehen?«
Der Mann nahm mir das Blatt aus der Hand, warf einen Blick auf die Zeichnung und auf die darunter skizzierten Rhythmen. Dann lachte er heiser auf.
»Man munkelt, man findet dieses Symbol überall in Berlin, sogar am Kurfürstendamm. Warum suchst du danach, Junge?«
Das alte Misstrauen kehrte zurück. Konnte ich es riskieren, von den Wasserspeiern zu sprechen? Ich kannte den Mann nicht. Und noch immer hatte ich keine Ahnung, ob das, wonach ich suchte, mich nicht vielleicht in große Schwierigkeiten bringen würde.
»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen.«
»Weil du es nicht weißt – oder weil du nicht darüber sprechen willst?«
Unsere Blicke trafen sich und ich straffte mich.
»Weil ich nicht darüber sprechen will.«
Der Alte lachte erneut und gab mir das Blatt Papier zurück.
»Gut, wenn man den Mund halten kann. Manchmal überlebenswichtig, das kannst du mir glauben. Aber es ist nie verkehrt, Vertrauen zu den richtigen Menschen zu haben.«
»Und woher weiß ich, wer mein Vertrauen verdient?«, antwortete ich zögerlich und kam mir dabei fast ein wenig albern vor.
Der alte Mann kicherte glucksend in sich hinein.
»Oh, das sagt einem das Herz, nur das Herz. Wenn man lauscht. Meistens hat es recht. Nicht immer, zugegeben. Ich lag manches Mal daneben und dann bekommt das Herz einen Sprung. Aber es sind gute Sprünge, wenn man es genau betrachtet, denn sie sind nur da, weil man etwas gewagt hat.«
Er legte mir eine Hand auf den Arm und deutete mit dem Zeigefinger der anderen Hand den Hauptweg entlang.
»Wirst ja sehen. Dort hinunter und am dritten Querweg links. Und dann dem Herzen nach.«
Erneut lachte er, dann drehte er sich um und schritt in Richtung des Eingangs davon. Ich sah ihn in die Arkadengänge zur
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