Ruf der Drachen (German Edition)
deuten, doch im letzten Moment überlegte ich es mir aus unerfindlichen Gründen anders. Stattdessen machte ich eine fahrige Handbewegung. »… nur Ihren Vorgarten bewundert. Ja … den Garten.«
Christiane Meinert runzelte die Stirn und blickte sich irritiert um. Erst jetzt fiel mir auf, dass der Vorgarten alles andere als eine Augenweide war: Die Gehwegplatten waren überwuchert von Löwenzahn, die Beete allesamt ungepflegt.
Ich räusperte mich.
»Ich bewundere Ihren Einsatz für die unverfälschte Natur. Ja. Ich denke, es gehört Mut dazu, es wachsen zu lassen, wie es eben will.«
»Und ich denke, Sie gehen jetzt besser.«
Christiane Meinerts Gesicht hatte sich während ich sprach so zunehmend verfinstert, dass ich um die Fortsetzung der Klarinettenstunden für ihren Sohn zu bangen begann. Es war an der Zeit, zu gehen.
»Einen schönen Abend!«, wünschte ich und lächelte der Mutter meines Schülers zu.
Sie zwang sich ebenfalls ein Lächeln aufs Gesicht, doch die Art, wie sie mich musterte, blieb kühl und misstrauisch. »Ebenso.«
Den ganzen Weg die Straße hinunter bis zur U-Bahn-Station konnte ich Christiane Meinerts Blick auf mir spüren. Offensichtlich wollte sie sichergehen, dass ich auch tatsächlich verschwand und mich nicht heimlich im Dunkeln wieder in den Garten zurückschlich.
Ich biss mir auf die Unterlippe. Idiot!
Ich brauchte den Job dringend. Erst vor wenigen Wochen war ich in Berlin angekommen und studierte jetzt im ersten Semester an der Freien Universität. Berlin war meine Wunschstadt gewesen, mein Sehnsuchtsort – zum einen, weil man hier das Gefühl hatte, auf einer abgeschotteten Insel zu leben. Und dem Wehrdienst entging. Doch es war nicht nur das. Ich hatte nach Berlin gewollt, weil meine Vorfahren hier gelebt hatten, vor dem Holocaust. Sie hatten sich rechtzeitig ins Ausland retten können, dadurch aber so gut wie alles verloren. Jetzt nach Berlin zu gehen und hier zu leben, fühlte sich für mich an, als würde ich an ihrer Stelle die Stadt zurückerobern.
Um mein Studium zu finanzieren, unterrichtete ich Klarinettenschüler, und davon hatte ich im Moment noch zu wenige. Etwas anderes hatte sich allerdings auf die Schnelle auch nicht auftreiben lassen, und zudem war es die beste Tätigkeit, die ich mir vorstellen konnte. Außer vielleicht, mich den ganzen Tag in Archiven in historische Dokumente zu vergraben, wofür mich aber wohl niemand freiwillig bezahlen würde. Nein, momentan war jeder einzelne Klarinettenschüler überlebenswichtig für mich. Und ich konnte nur hoffen, dass ich es mir durch die intensive Auseinandersetzung mit dem seltsamen Wasserspeier nicht mit den Meinerts verdorben hatte.
Noch während ich mit der U-Bahn zurück nach Kreuzberg fuhr, hallte die Neugier in mir nach. Der Wasserspeier war irgendwie merkwürdig gewesen. Doch wie merkwürdig er wirklich war, das konnte ich damals noch nicht ahnen.
***
Ich schlief wenig in der folgenden Nacht, was zum einen an den Erschütterungen lag, die die nahegelegene Hochbahn in der Altbauwohnung auslöste, die ich mit einem Philosophiestudenten teilte, aber mindestens ebenso sehr an der Tatsache, dass der Wasserspeier sich in meinen Gedanken eingenistet hatte. Immer wieder tauchte der Drachenkopf in meinen Träumen auf. In seine blau funkelnden Steinaugen trat wildes Leben, der Wasserspeier reckte sich, wuchs und wuchs, wurde zu einem riesigen, das gesamte Haus überragenden Drachen, der finster auf mich hinabstarrte, als wäre ich sein nächstes Opfer.
Morgens um vier schließlich, nachdem der Drache in meinem Traum damit begonnen hatte, Feuer statt Wasser zu speien, hatte ich es satt, mich herumzuwälzen. Wie gerädert schlurfte ich hinüber in die Küche und traf dort – wie erwartet – auf Max. Mein Mitbewohner hockte im Schneidersitz auf der breiten Fensterbank, den verstaubten Ficus benjamini neben sich, und tat so, als meditiere er. Unbeeindruckt ging ich zum Kühlschrank und zog die Tür auf. Ich kannte das Szenario schon. Max meditierte nie. Und deshalb war es auch nicht nötig, besonders rücksichtsvoll zu sein.
In der Kühlschranktür klirrten einige Bierflaschen aneinander und sofort riss Max ein Auge auf und musterte mich finster.
»Geht das auch weniger laut?«
»Wieso? Hast du geschlafen?«
»Nein«, antwortete Max betont würdevoll, schälte die Beine aus der unbequemen Haltung und sprang mit einem Seufzen von der Fensterbank. »Ich suche Erleuchtung, Jakob. Erleuchtung. Würde dir auch
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