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Ruf der Drachen (German Edition)

Ruf der Drachen (German Edition)

Titel: Ruf der Drachen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yalda Lewin
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Straßenseite, die Hände lässig in den Manteltaschen vergraben, einen Hut auf dem grauen Haar, und beobachtete mich so ungerührt, als hätte er mich die ganze Zeit erwartet. Doch wie konnte das sein? Woher wusste er, dass ich herkommen würde? Das konnte nur bedeuten, dass er noch viel mehr über die Wasserspeier wusste, als ich gedacht hatte!
    Eine ungeahnte Wut loderte wie ein Buschbrand in mir hoch. Wer auch immer dieser Typ auf der anderen Straßenseite war, der sich hinter seinem beigefarbenen Trenchcoat und dem ins Gesicht gezogenen Hut versteckte, als wäre er ein Spion aus einem drittklassigen Film – ich war es leid, ihn auf meinen Fersen zu wissen! Was immer er von mir wollte, ich würde es herausfinden. Jetzt sofort! Auch auf die Gefahr hin, dass er mich festnahm, mich einsperrte – oder was auch immer man mit Menschen tat, die es wagten, im Ostteil Berlins nach mysteriösen Wasserspeiern Ausschau zu halten!
    Mit vor Wut festen Schritten überquerte ich die Straße und steuerte direkt auf den Fremden zu. »He!«, rief ich. »Schluss mit den Spielchen! Wer sind Sie? Warum folgen Sie mir?«
    Der Mann zuckte unmerklich zusammen und ich merkte, wie sich einige Passanten zu uns umdrehten. Offensichtlich war ich lauter gewesen, als ich es vorgehabt hatte. Bevor ich noch etwas hinzufügen konnte, wandte der Mann sich von mir ab und eilte die Straße hinunter. Es wirkte wie eine Flucht und für einen Augenblick erwog ich triumphierend, ihm zu folgen. Mich an seine Fersen zu heften, sein Schatten zu werden, derjenige, der jede seiner Bewegungen überwachte. Doch dann fiel mein Blick auf einige Zeitungen, die an einem kleinen Kiosk ausgehängt waren – und ich erstarrte mitten in der Bewegung. Ein heftiges Frösteln glitt über meine Haut, als hätte mich jemand in Eiswasser getaucht.
    Dort, von einer der Titelseiten, blickte mich das Bild des alten Mannes an, der mir in Weißensee den Weg zum Wasserspeier gewiesen hatte. Das verschmitzte Lächeln war unverkennbar. »Isaac Heim, der letzte Rabbi von Weißensee, ist tot« , stand als Schlagzeile neben dem Foto.
    Plötzlich fühlten sich meine Knie wie Gummi an. Ich tappte unbeholfen auf den Kiosk zu und nahm die Zeitung vom Haken. Die Zeitungsfrau musterte mich wachsam durch die Scheibe. Ich bemerkte es kaum.
    »Isaac Heim ist am Vorabend im Kreise seiner Familie verstorben« , las ich in dem kurzen, aber prägnanten Artikel. Ihm sei unter anderem zu verdanken, dass der Bau einer Autobahn quer durch das Friedhofsgelände, wie es die Stadtplanung im Zuge der Entwicklung von innovativen Vierteln wie Marzahn und Hellersdorf vorgesehen hatte, niemals umgesetzt worden war. Bis zuletzt habe der Rabbiner sich nach Kräften für den traditionsreichen Friedhof eingesetzt. Aus heutiger Sicht habe sich dies als wichtiger Beitrag zur Erhaltung von Grünflächen für die Bevölkerung erwiesen.
    Mir wurde schwindelig und ich musste mich festhalten, um nicht zu fallen.
    Der alte Mann! Konnte das wirklich sein?
    »He!«, schnauzte mich die Kioskfrau an. »Nich uffs Glas, ick muss dit allet wieder sauber machen!«
    Hastig löste ich meine Hand wieder von der Scheibe. Meine Gedanken wirbelten wie Konfetti durcheinander. Wie konnte es sein, dass ich Isaac Heim vor wenigen Stunden auf dem Friedhof begegnet war? Zu diesem Zeitpunkt hatte er alles andere als tot gewirkt!
    Ich schluckte schwer und griff mir an den Hals. Das Blut pulste in überbordenden Wellen durch meine Schlagader, doch ich nahm es kaum war. Meine Gedanken kreisten um den alten Mann. Isaac Heim. Ich hatte ihn gesehen. Dafür gab es nur eine Erklärung – und diese gefiel mir nicht.
    Es war wieder einmal passiert. Ich hatte einen Geist gesehen. Eine Seele, die sich nach dem Tod noch in der Nähe ihres Körpers herumtrieb, die durch die Straßen wandelte wie jeder andere und sich unter die Lebenden mischte, als sei nichts geschehen. Mir waren solche Seelen in meinem Leben schon einige Male begegnet, doch ich hatte bisher stets versucht, das Geschehene zu relativieren und als Hirngespinst abzutun. Dieses Mal aber konnte ich nicht anders, als die Tatsachen zu akzeptieren. Der alte Rabbiner war schon gestern Abend gestorben. Ich sah es schwarz auf weiß vor mir. Ich konnte ihm nicht vor wenigen Stunden begegnet sein. Doch nicht nur das: Ich hatte mit ihm gesprochen und er hatte mir geantwortet. Nur durch seinen Hinweis war ich überhaupt zu dem Wasserspeier gekommen, der mich auf meiner Suche nach der Lösung des

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