Ruf der Drachen (German Edition)
schmaler Weg, gesäumt von Büschen und Bäumen, lag vor mir. Vogelgezwitscher drang an mein Ohr. Ungläubig starrte ich auf den Grabstein, der nicht weit von mir aus dem Gras ragte. Ich wusste, dass der Jüdische Friedhof in Weißensee sich über ein riesiges Areal erstreckte, aber ich war fast zwei Stunden in diesem unterirdischen Gang unterwegs gewesen – ich konnte nicht mehr auf dem Gelände sein! Das war vollkommen unmöglich, außer der Gang führte in Spiralen immer weiter in sich selbst hinein. Doch hätte ich das beim Gehen nicht bemerkt? Die Strecke war mir schnurgerade erschienen. Nein, ich war ganz sicher nicht mehr auf dem Jüdischen Friedhof. Und doch prangte mir die hebräische Inschrift auf der Marmorstele unweit von mir wie ein hämisches Grinsen entgegen. Und direkt daneben – ein Wasserspeier! Eine alte, per Hand zu betreibende Wasserpumpe, deren dunkelgrüner Lack hier und da abplatzte – und deren Korpus die Gravur eines kleinen Drachenkopfes zierte.
Für einen Moment war ich zu irritiert, um mich überhaupt rühren zu können. Wo war ich?
Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass mich niemand beobachtete, stemmte ich mich aus dem Gulli hoch. Rasch deckte ich das Loch wieder ab, richtete mich auf und klopfte mir die Hände an der Hose ab. Mein Herz schlug so laut, dass ich kurz fürchtete, jemand könnte es selbst aus der Ferne hören. Doch ich hatte Glück – es war weit und breit niemand zu sehen.
Langsam näherte ich mich dem Wasserspeier und strich mit den Fingerspitzen vorsichtig über den eingravierten Drachenkopf. Er wirkte, als hätte man ihn hier platziert, um Suchenden die Richtung zu weisen, als würde er sagen wollen: Es stimmt schon, du bist richtig hier, hab nur Vertrauen! Der Drache sah aus wie alle anderen, die ich bisher gefunden hatte. Und er war ganz sicher nicht zufällig an diesem Ort.
Ich ließ den Blick schweifen und stellte fest, dass der Friedhof hier anders aussah. Es waren ohne Zweifel jüdische Grabstätten, aber irgendetwas irritierte mich. Und dann – endlich – durchzuckte es mich wie ein Blitz: Ich konnte die Begrenzungsmauern sehen, die alten ziegelroten Backsteine, überwuchert von Efeu und wildem Wein. Der Friedhof war viel kleiner als der in
Weißensee. Wo – zur Hölle – war ich nur gelandet?
Mit schnellen Schritten wandte ich mich einem Durchgang in der Mauer zu und trat hindurch auf die Straße. Es dauerte nur Sekunden, bis mir klar wurde, dass ich mich noch immer im Ostteil der Stadt befand. Die Fassaden der Altbauten waren von einheitlichem Grau, die Balkone, wie an unserem Kreuzberger Wohnhaus, gefährlich heruntergekommen, und die wenigen am Straßenrand parkenden Autos fast ausnahmslos der Marken Trabant oder Wartburg , hier und da ergänzt durch einen Westwagen. Ein Schild neben dem Friedhofseingang zog meinen Blick auf sich. »Zum Kollwitzplatz« stand dort in altmodisch verschlungenen Buchstaben und ein Pfeil unter der Schrift deutete nach rechts.
Ich zog mich in einen Hauseingang zurück, zückte den Stadtplan und begann zu suchen. Schließlich fand ich meinen Standort – und hätte fast laut aufgelacht. Nein, ich war wirklich nicht mehr in Weißensee. Aber wenn ich dem Stadtplan glauben konnte, hatte mich der geheime Gang im Untergrund direkt vom dortigen jüdischen Friedhof zu einem weiteren jüdischen Friedhof geführt – und dieser lag mitten im Prenzlauer Berg, dem Viertel, das für seine umtriebige Künstlerszene ebenso bekannt war wie für den latenten Widerstand gegen das verkrustete System der DDR.
Für einen Moment war ich fassungslos gegenüber der Vorstellung, welchen Aufwand es bedeutet haben musste, diesen sich über viele Kilometer ziehenden unterirdischen Gang zwischen den beiden Friedhöfen zu bauen. Die Gründe dafür würden wahrscheinlich im Dunkeln bleiben. Außer ich fand etwas darüber in der Bibliothek des Institutes für Judaistik. Dass der Gang sehr alt war, viel älter als die Teilung Deutschlands in zwei verschiedene Staaten, zwei verschiedene Systeme, daran zweifelte ich nicht. Ich hätte zu gerne gewusst, was es damit auf sich hatte. Aber darum konnte ich mich später kümmern. Irgendwann, wenn das Rätsel der Wasserspeier gelöst war.
In diesem Moment spürte ich es. Es war wieder da, dieses Prickeln im Nacken. Ich sah auf – und blickte direkt in die Augen des Mannes im beigefarbenen Trenchcoat.
Mir stockte der Atem und mein Herz geriet ins Stolpern. Der Fremde stand auf der anderen
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