Ruf der Drachen (German Edition)
Rätsels weiterbrachte! Konnte ich mir all das eingebildet haben? Ich glaubte es nicht. Aber das war fast mehr, als ich in diesem Moment verkraften konnte.
»Nehm’se die Zeitung jetz mit oda nich?«
Irritiert blickte ich auf. Die Zeitungsfrau starrte mich mit finster zusammengezogenen Brauen an. Hastig nickte ich, kramte in meiner Tasche nach dem Münzgeld, das mir viel zu leicht vorkam, und reichte es der Frau in ihre gläserne Kabine hinein.
»Schönen Tach noch«, nuschelte sie und ich war mir sicher, dass sie es nicht so meinte.
Ich erwiderte den Wunsch, steckte die Zeitung zusammengefaltet in meine Jackentasche und wischte noch kurz mit dem Ärmel über den Fleck, den ich auf der Scheibe hinterlassen hatte. Das machte es eher schlimmer als besser, aber immerhin hatte ich guten Willen bewiesen. Nur, dass die Kioskfrau das wahrscheinlich nicht so sah …
Ich war so durcheinander, dass mir der Fremde im Trenchcoat erst an der nächsten Straßenecke wieder einfiel. Ich blickte mich um, doch weit und breit war von ihm nichts mehr zu sehen. Vielleicht hatte mein wütender Vorstoß genügt, um die Fronten abzustecken, und ich würde für den Rest des Tages meine Ruhe haben. Oder aber bei meiner Rückkehr nach Westberlin festgenommen werden. Doch dieser Gedanke kam mir erst einige Stunden später, als ich auf den Grenzübergang am Tränenpalast zusteuerte. Zunächst sollte mich mein Weg noch an einen anderen Ort in Ostberlin führen.
***
Es war so einfach, dass ich fast nicht darauf gekommen wäre. Der Kreis mit dem Punkt in der Mitte …
Eine gute halbe Stunde saß ich grübelnd auf einer Parkbank, deren dunkelgrüner Lack hier und da abblätterte, als würde sich das Holz von einer zu engen Haut befreien. Während der herbstliche Wind mir empfindlich kühl in die Knochen kroch, starrte ich auf den Stadtplan in meiner Hand. Die Inschrift in dem geheimen Tunnel kam mir wieder in den Sinn: Ein Land, in dem nichts bleibt, wie es war … Der Kern der Stadt im Visier … Die Anzahl der Speier und ihr innerstes Geheimnis bringen dich zum Tag der Erschütterung …
Abwesend kaute ich auf meinem Kugelschreiber herum. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich der Lösung ganz nah war. Und das machte es nur umso nervtötender. Was hatte ich übersehen?
Die Zahl der Speier war klar. Wenn ich meinen bisherigen Erkundungen Glauben schenken konnte – und auch die Aussage des alten Rabbiners einbezog, dass es am Ku’damm tatsächlich einen weiteren Wasserspeier gab –, dann mussten es insgesamt neun sein: einer in jeder Richtung der Sonnenstrahlen und einer in der Mitte der Stadt. Wobei ich mir nicht sicher war, wo genau dieser zentrale Speier sich befinden sollte, aber eben dieser musste mit dem Punkt in der Mitte des Kreises gemeint sein.
Also ging es um ein Datum, das die Zahl 9 enthielt. An irgendeiner Stelle. Aber war das überhaupt wichtig?
Ich seufzte und schloss erschöpft die Augen. Langsam ging in meinem Kopf alles durcheinander. Was tat ich hier überhaupt – und warum? Ich jagte mitten in Ostberlin Botschaften nach, die ich mir nicht erklären konnte, bezog die Aussagen von offensichtlich gerade Verstorbenen in meine Überlegungen mit ein und hatte höchstwahrscheinlich die Stasi auf den Fersen. Wenn man es objektiv betrachtete, erweckte ich den Eindruck von latentem Wahnsinn.
Aber das war nicht neu, schließlich lebte ich mit meinen Eigenarten seit meiner Geburt. Wobei es Phasen gegeben hatte, in denen ich weniger gut damit zurechtkam als heute. Irgendwann hatte ich akzeptiert, dass ich ein wenig anders war. Und dass ich manchmal aufgrund meiner Wahrnehmungen in Dinge hineingeriet, die den Menschen um mich herum seltsam erschienen.
Für einen Moment überlegte ich, was Maren dazu sagen würde, doch dann drängte ich die Gedanken beiseite. Spätestens bei der Schilderung des Rabbiners würde unsere Kommunikation wohl sehr einseitig werden. Wie sollte ich ihr erklären, dass ich Geister zu sehen glaubte? Nein, dass ich Geister sah – und, was noch unheimlicher war, mit ihnen Gespräche führte?! Für mich gab es daran keinen Zweifel mehr.
Ich schüttelte den Gedanken ab, öffnete die Augen und blickte auf den Stadtplan, der noch immer auf meinen Knien lag. Dann zückte ich den Kugelschreiber und kreiste nochmals die Wasserspeier ein, die ich bisher gefunden hatte. Vielleicht half das dabei, die Gedanken zu sortieren.
Friedenau im Südwesten. Neukölln im Südosten. Der Märchenbrunnen im Nordosten.
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