Ruf der Dunkelheit
Olivias Lippen wurden schmal und es tat mir augenblicklich leid, dass ich sie so angefahren hatte. Trotzdem musste ich tief durchatmen. Wie um alles in der Welt sollten wir denn herausfinden, was der fehlende Inhaltsstoff war?!
„Was meinst du, wie lange wird Julian noch durchhalten?“, hörte ich Max´ Stimme neben mir, doch er klang, wie in Watte gepackt. Ich war nicht mehr fähig klar zu denken, denn die Angst, dass wir Julian nicht mehr helfen konnten, hatte sich schmerzhaft in meinen Verstand gefressen. „Hm … ich weiß es natürlich nicht genau, aber wenn sein Zustand sich nicht verändert, gebe ich ihm noch circa zwei Wochen - maximal“, erklärte Olivia niedergeschlagen. Sie konnte nicht gut mit Rückschlägen umgehen und die Tatsache, dass sie nicht herausfinden konnte, was genau meinen Gefährten vergiftet hatte, schien an ihr zu nagen.
Ich schleppte meine tauben Glieder in Richtung des Hauses, als ich Max´ Hand auf meiner Schulter spürte. Aber ich wurde in diesem Moment von meinen übermächtigen Gefühlen beherrscht und wollte einfach nur allein sein, um meine brennende Wut mit literweise Blut zu ertränken. Doch Max packte mich energisch und riss mich zu sich herum. Ich konnte seinem stechenden Blick kaum standhalten, während er seine Finger so fest um meine Arme schloss, dass es schmerzte. „Tamara! Hör mir zu – gib jetzt nicht auf! Wir haben noch eine Möglichkeit…“ Er hielt mich immer noch fest umfasst und sprach jedes seiner Worte mit Nachdruck aus, sodass sie keine Widerworte zuließen.
„Und was sollen wir deiner Meinung jetzt tun?“, fragte ich matt. Seine Augen wurden schmal und ich konnte mich in seiner dunkel blitzenden Iris spiegeln sehen. „Wir fahren nach Boston!“
Kapitel 5: Tamara - Boston
Ich stand vor Julians Bett und in meinem Magen hatte sich ein eiskaltes, stechendes Pulsieren ausgebreitet. Mir war nicht wohl, bei dem Gedanken, ihn allein zu lassen. Seufzend sank ich auf die Knie und vergrub mein Gesicht an seiner Schulter. Sein Brustkorb hob und senkte sich unregelmäßig, während er sich jeden Atemzug angestrengt abrang. „Ich bin so schnell wie möglich zurück“, versprach ich ihm flüsternd und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen, während mir eine Träne über die Wange rollte.
„Tamara?“ Max´ sanfte Stimme erklang hinter mir. „Wir müssen los, sonst verpassen wir unseren Flieger.“ Ich atmete geräuschvoll aus und küsste Julian noch ein letztes Mal. Ich hatte große Angst davor, dass ich vielleicht mit leeren Händen zurückkehren würde, denn dann wäre sein Schicksal besiegelt. Unwillig stemmte ich mich von der Bettkante ab und folgte Max nach unten.
Valentina wartete mit Olivia schon am Auto auf uns. Sie hatten sich bereiterklärt, bei Julian zu bleiben und Olivia wollte nichts unversucht lassen, das ihm vielleicht helfen konnte. Diese Tatsache beruhigte mich aber nur ein klein wenig. Ich wollte nicht gehen, aber andererseits konnte ich mir auch nicht vorstellen, tatenlos herumzusitzen und dabei zuzusehen, wie er jeden Tag ein schwächer wurde.
Der Wald lag noch still im dunklen und einzelne Nebelschwaden stiegen dampfen aus der feuchten Erde auf, als wir das Haus verließen. Valentina umarmte mich ganz fest, während wir uns von den beiden verabschiedeten. „Ich passe gut auf ihn auf!“ Ihre Augen glitzerten feucht, ehe sie sich von mir löste und zurücktrat. Ganz klar, sie war besorgt. Immerhin musste sie Max mit mir losziehen lassen, ohne dass irgendjemand von uns wusste, was uns erwartete. Ich glitt auf den Beifahrersitz, während Max den Motor startete, den Wagen wendete und auf den holprigen Waldweg fuhr. Als ich in den Rückspiegel blickte, sah ich die schemenhaften Umrisse von Val und Olivia, die bald darauf verschwunden waren. Keiner von uns sprach ein Wort, während Max den SUV durch das stockdunkle Unterholz lenkte. Die Scheinwerfer des Wagens warfen einen Lichtkegel vor uns auf den Pfad und ließen ab und an die Augen eines Wildtiers aufleuchten, das unseren Weg kreuzte.
Ich blickte aus dem Fenster; hin und wieder gaben die Baumkronen einen kurzen Blick auf den sternenklaren, schwarzen Nachthimmel frei.
***
Nachdem wir einen kurzen Zwischenstopp in Charlotte eingelegt hatten, landete unser Flieger mittags auf dem Boston Airport.
„Wie sollen wir vorgehen?“ Ich sah fragend zu Max, der unseren Mietwagen gerade vom Flughafengelände lenkte. „Wir fahren als erstes zu dieser Bar. Vielleicht ist schon jemand
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