Ruf der Dunkelheit
Mehr als ein Flüstern brachte ich nicht heraus. Olivia sah zu mir auf und schnalzte mit der Zunge. „Nur etwas, das ihn ein paar Stunden tief schlafen lässt. Danach wird er sich wahrscheinlich etwas verkatert fühlen, aber es ist völlig ungefährlich – da wird doch jetzt wohl nicht jemand von einem schlechten Gewissen geplagt?“ Ihre Augenbraue schnellte nach oben.
„Glaubst du, mir gefällt das?!“ Es tat mir wirklich leid, das ich ihn so zurücklassen musste, aber ich wollte nicht riskieren, dass er mir hinterher reiste, wenn ich mich auf die Suche nach Max begab. „Aber es ist besser so.“ Ich ließ die Schultern hängen und ging neben Olivia in die Knie. Ich griff unter Julians leblosen Körper, hob ihn hoch und trug ihn ins Wohnzimmer. Vorsichtig legte ich ihn auf der Couch ab und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Meine Augen brannten, denn mir war wohl bewusst, dass ich ihn womöglich zum letzten Mal sah. Immerhin wusste ich nicht, wie Margaretha reagieren würde, wenn ich plötzlich aufkreuzte. Eine stille Träne rollte über meine Wange; schnell wischte ich sie mit dem Ärmel beiseite. „Ich liebe dich so sehr Julian – mehr als alles andere auf dieser Welt“, hauchte ich und strich ihm ein letztes Mal über die Wange. Ich erhob mich und mein Blick begegnete Olivia, die im Türrahmen lehnte. „Ich gehe packen“, erklärte ich mit rauer Stimme und trat an ihr vorbei.
Kapitel 12: Tamara - Michael
Mein Herz schmerzte, als ich im Flugzeug nach Frankfurt saß. Für mich war dieser Moment am See ein Moment des Abschieds gewesen. Noch immer dachte ich an Julians Worte, wie sehr es ihn damals verzweifeln ließ, als er dachte, er würde mich verlieren. Es war nicht unser erster Abschied, doch es war der erste, bei dem ich die Entscheidung getroffen hatte, zu gehen. Julian würde wahrscheinlich ausflippen. Arme Olivia!, schoss es mir durch den Kopf. Hoffentlich nahm er es ihr nicht allzu übel, dass sie mir geholfen hatte. Völlig in Gedanken versunken, starrte ich aus dem winzigen Fenster und beobachtete die herumwuselnden Menschen auf dem Rollfeld. Neben mir bewegte sich der Sitz und ein junger Mann, Mitte Zwanzig strahlte mich kurz an. „Hallo, ich bin Michael.“ Sein Akzent ließ erahnen, dass er zurück in die Heimat flog. „Hmm“, brummte ich und wandte wieder den Kopf, um weiter aus dem Fenster zu starren. Mir war nicht nach reden zumute und schon gar nicht nach oberflächlichem, menschlichen Smalltalk.
Als die Maschine wenig später abhob, lehnte ich mich zurück, schloss die Augen und ging immer wieder durch, was ich mit Olivia besprochen hatte. Doch die Ruhe währte nicht allzu lange, denn kaum war das Flugzeug in der Luft, begannen die übereifrigen Flugbegleiter, mit ihren Kaffeekannen durch die schmalen Gänge zu schwadronieren. „Möchten Sie Kaffee oder Tee?“, erklang eine durchdringende, viel zu freundliche Stimme neben uns. Unwillig hob ich eine Augenbraue und beobachtete, wie sich mein Sitznachbar mit einem „Danke, sehr gern!“ die Tasse füllen ließ. Das schwarze Gebräu stank fürchterlich und fast musste ich würgen. Wer hatte denn dieses Spülwasser gekocht?! „Möchten Sie auch?“ Der fragende Blick der brünetten Stewardess ruhte auf mir. „Nein, auf gar keinen Fall“, erwiderte ich genervt. „Aber wenn sie bitte so freundlich wären, und mir Wodka auf Eis bringen würden?“ Ich blickte zu ihr auf und setzte betont ein zuckersüßes Lächeln auf, während ich sehen konnte, wie sich die Pupillen der Frau für den Bruchteil einer Sekunde weiteten. „Und sorgen sie bitte dafür, dass mein Glas immer schön voll bleibt“, knurrte ich und lehnte mich wieder zurück in meinen First-Class Ledersessel.
Seelenruhig schlürfte Michael neben mir seine dickflüssige Brühe. Ich griff nach einer Zeitschrift und tat so, als würde mich wahnsinnig interessieren, was in dem Klatschblatt stand. „Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“ Plötzlich spürte ich Michaels neugierigen Blick auf mir ruhen. Seufzend rollte ich die Augen und blickte über den Rand meiner Lektüre. „Wieso? Wie kommen Sie darauf?“ Ich versuchte halbwegs freundlich zu bleiben, überlegte mir jedoch, ob ich ihn gedanklich zum Schweigen bringen sollte. „Na ja“ Er nahm seine schwarz gerahmte, moderne Brille ab und putzte nicht vorhandenen Schmutz von seinen Gläsern. Umständlich setzte er sie wieder auf und wandte erneut den Kopf zu mir. „Sie bestellen sich harten Alkohol, auf einem
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