Ruf der Dunkelheit
zehnstündigen Flug …“, murmelte er und fummelte nervös an einem Faden seiner Decke herum, die er fein säuberlich über seine Knie gelegt hatte. „Und das kommt Ihnen eigenartig vor?“, wollte ich wissen und verkniff mir nur mit Mühe ein Schmunzeln. Er zuckte kurz mit den Schultern. „Nun ja, so alltäglich ist das wohl nicht.“
„Machen Sie sich mal keine Sorgen, wenn ich später betrunken genug bin, schlafe ich einfach ein. Ich bin eher eine lethargische Säuferin“, erwiderte ich trocken und vertiefte mich wieder in meine Zeitschrift. Offenbar war ihm der ironische Unterton in meiner Stimme nicht verborgen geblieben, denn nach einem kurzen Schnauben, schien ihm bewusst zu werden, dass er in mir keinen angenehmen Gesprächspartner gefunden hatte. Nachdrücklich presste er sich seine Kopfhörer in die Ohren, rückte sein Nackenkissen zurecht und schloss die Augen.
Wenig später sackte sein Kopf schlaff nach hinten und ein Schnarchen drang aus seiner Kehle. Ich trank noch ein paar Wodka und begann dann, die Deutschlandkarte zu studieren, die ich von Olivia bekommen hatte. Leider war das Gebiet um Frankfurt viel zu klein dargestellt. Ich würde mir also am Flughafen eine andere besorgen müssen.
Zum Glück schlief Michael fast den kompletten Flug über; erst zum Frühstück, kurz vor der Landung wurde er wach, streckte den Rücken durch und verschwand in der Toilette. Ich stellte wieder einmal fest, welch ein Segen es war, mit einem so anspruchslosen Körper ausgestattet zu sein. Außer der Gier nach Blut gab es nämlich im Vergleich zum menschlichen Modell nur Vorzüge. Ich lehnte das Frühstück dankend ab und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Michael sich über sein Essen hermachte.
Und endlich setzte die Maschine zum Landeanflug an. Erleichtert klappte ich mein Tischchen hoch und schloss den Anschnallgurt. Zum Glück konnte ich am Flughafen als eine der ersten das Flugzeug verlassen und musste mich nicht durch den Pulk der Holzklasse zwängen.
Kaum waren die Anschnallzeichen über mir erloschen, drängte ich mich an Michael vorbei, der immer noch seinen ganzen Kram zusammensuchte, schnappte mir mein Boardcase und stand als Erste an der Flugzeugtür. Kaum würde diese geöffnet, strömte mir eiskalte Luft entgegen; unbeirrt trat ich auf die Gangway und lief im Stechschritt Richtung Autovermietung.
Wenige Minuten später, hielt ich den Schlüssel meines Leihwagens in der Hand und fuhr mit dem Aufzug in die Tiefgarage. Als die Türen sich öffneten, schlug mir eine Abgaswolke entgegen. Angewidert verzog ich das Gesicht und blickte mich suchend um. Ich entdeckte das Banner der Autovermietung, das von der Decke hing und lief auf die geparkten Autos zu. Als ich mich zwischen den Blechkarossen bewegte, hielt ich plötzlich inne und lauschte. Ich vernahm schlurfende Schritte, die sich direkt in meine Richtung bewegten. Hektisch sah ich mich um – wurde ich etwa verfolgt?! Oder gingen die Nerven mit mir durch?
Das Klopfen eines menschlichen Herzens hallte in meinen Ohren, während ich weiter lief und nach meinem Mietwagen Ausschau hielt. Wahrscheinlich war es nur ein Kunde der Autovermietung, der wie ich, auf der Suche nach seinem Wagen war.
Doch die Schritte folgten mir, egal welche Richtung ich einschlug und so duckte ich mich hinter einem schwarzen Kombi und wartete. Anthrazitfarbene Sneakers tauchten in meinem Blickfeld auf und ich schoss aus meinem Versteck hervor, packte den Unbekannten an der Kehle und presste in schwungvoll gegen einen Jeep. Die Karosserie ächzte und meinem Verfolger drang ein erschrockener Laut aus der Kehle. Mein Angriff war so schnell erfolgt, dass er zum Glück viel zu überrumpelt war, um zu schreien. Ohne meinen eisernen Griff zu lösen, sah ich dem jungen Mann in die Augen, während er sich röchelnd zwischen meinen Fingern wand. Seine Beine baumelten in der Luft und seine Lippen wurden langsam blau.
Plötzlich erkannte ich, wer mir gefolgt war – Michael! Ungläubig zog ich die Brauen zusammen. „Was soll das? Wer sind Sie und warum verfolgen Sie mich?!“, zischte ich ihn an. Er griff sich mit den Händen an seinen Hals und gab keuchende, unverständliche Laut von sich. Da wurde mir bewusst, dass ich wohl gerade dabei war, ihn zu erwürgen. Ich lockerte meinen Griff und Michael fiel vornüber auf seine Knie. Röchelnd und hustend stützte er sich mit den Händen am Boden ab und als er endlich wieder Luft bekam, sah er zu mir auf. „Sind Sie
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