Ruf der Geister (German Edition)
konnte sein Gesicht nicht erkennen. Es war wie von einem dunklen Schleier verhüllt.“
Dornfeldt sagte nichts, aber Erich seufzte leise.
„Kein Anhaltspunkt?“
Joshua schüttelte den Kopf. „Ich weiß nur, dass sie auf dem Pendlerparkplatz an der Münsterstraße aufgegabelt wurde.“
„Das Auto?“
Daran hatte Joshua nicht gedacht! Hatte er das Auto erkennen können? Nein, es war dunkel und er hatte bei der Flut der Bilder nicht weiter darauf geachtet.
„Erzählen Sie mir mehr von den Morden“, forderte der Profiler und wandte sich von Joshua ab. Schnell waren die Polizisten in ein leises Gespräch vertieft, entfernten sich etwas.
„Mach dir nichts draus“, raunte Lea. „Robert Dornfeldt ist Übersinnlichem gegenüber nicht gerade aufgeschlossen.“
„Du kennst ihn?“
„Ich habe früher in Recklinghausen unter ihm gearbeitet. Jetzt bin ich in Gelsenkirchen eingesetzt, weil ich in Buer wohne.“
Verwundert fragte sich Joshua, wieso sie so vertraut miteinander umgingen.
„Er traut mir nicht, oder?“
„Dornfeldt ist vorsichtig. Das ist er immer. Auch mag er es nicht, wenn Zivilisten eingebunden sind.“
„Warum?“
„Weil viele Mörder es genießen, bei ihren eigenen Morden bei der Aufklärung zu helfen.“
„Wie das?“
„Na ja, meist sieht man einem nicht an, dass er Leute abmurkst. Wir hatten mal jemanden, der ein Mädchen vergewaltigte und ermordete und dann anschließend sehr aktiv bei der Suchaktion half.“
„Das ist pervers!“
„Ja, allerdings.“
Joshua registrierte, wie ein Beamter der Schutzpolizei zu ihnen herüberwinkte.
„Ich muss gehen, Joshua. Schön, dass ich den ›Geisterjungen‹ mal kennenlernen durfte.“
Lea ging zu dem Mann hinüber und Joshua wandte sich ab. Er sagte Erich kurz, dass er zurück zur Arbeit müsse und stieg in sein Auto. Die junge Polizistin blieb noch lange in seinen Gedanken haften.
COFFEE-TO-GO
Nachdenklich fuhr Joshua ins Büro zurück. In sich g ekehrt erledigte er seine Arbeit, sah erneut die Akte des schwangeren Mädchens durch und fragte im Mutter-Kind-Haus nach, ob ein Platz zur Verfügung stehen würde. Als er eine positive Antwort bekam, vereinbarte er mit der Kleinen und ihrer Tante einen Termin am nächsten Mittag.
Am Abend begab sich Joshua besorgt auf die Suche nach Julian. Der Junge war unauffindbar. Zweimal meinte er, Lea Schmidt in einem Auto gesehen zu haben und schüttelte über sich selbst den Kopf. Da er den Tag über kaum etwas gegessen hatte, hielt er bei einem Italiener und bestellte sich überbackene Nudeln, die er mit nach Hause nehmen wollte.
Als er aus der Pizzeria kam, runzelte er verdutzt die Stirn. Plagten ihn jetzt schon Halluzinationen? Er war sich fast hundertprozentig sicher, dass Lea erneut an ihm vo rbeigefahren war. Verwundert schaute Joshua dem Audi hinterher und schreckte im gleichen Augenblick zusammen, als er ein Kind mitten auf der Straße sitzen sah. Sein Schrei blieb ihm im Hals stecken, als das heranfahrende Auto einfach durch die kleine Gestalt hindurchraste. Joshuas Herz klopfte hart und schnell gegen seine Brust, und sein Essen wäre ihm fast aus den Händen gerutscht.
Mann, komm von der Straße weg! , fuhr er das Mädchen in Gedanken an. Ihr Kopf ruckte hoch und Erstaunen regte sich in ihren Zügen, als sie begriff, dass Joshua sie sehen konnte. Langsam richtete sie sich auf und wich zurück. Sein Auto stand auf der gegenüberliegenden Seite und er folgte ihr.
„Die Straße ist kein guter Ort. Auch nicht für ein Gei stermädchen“, zischte er und die Kleine verblasste.
Im gleichen Augenblick wurde ihm bewusst, wie albern er sich benahm. Die Kleine könnte bis zum jüngsten Tag auf der Straße hocken, ihr würde dort nichts mehr geschehen.
Die Geister erschienen Joshua so real, dass er zuweilen völlig instinktiv handelte und so ein junges Ding einfach nur beschützen wollte. Er kämpfte darum, seine Gabe im Alltag auszublenden, aber er fühlte sich geschwächt, dann funktionierte es einfach nicht. Zu viele Seelen, die mitten unter ihnen weilten, offenbarten sich ihm im Laufe eines Tages. Etliche schienen bei den Menschen helfend einzugreifen, manche wirkten verwirrt. Mit einem tiefen Seufzen dachte er an seinen Feierabend. Er wollte nur noch nach Hause. Seine Wohnung war eine Zuflucht, in die niemand gegen seinen Willen eindringen konnte. Er wusste nicht genau wieso, aber Joshua hatte erkannt, dass er in seinem eigenen kleinen Reich die Macht besaß, zu bestimmen, wer
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