Ruf der Sehnsucht - Historical Special Bd 33
abgelegt hatte. „Mehr brauchst du nicht zu wissen.“
„Aber woher kommst du? Wieso lebst du hier? Was ist mit deinen Angehörigen?“ Kaum hatte Sophie angefangen, floss ihr der Rest der ungehörigen Fragen fast von allein über die Lippen.
„Das weiß ich nicht mehr“, antwortete Melusine und bedachte Sophie mit einem Blick, der sie schlagartig verstummen ließ. „Solltest du etwas wissen wollen, so frage das, was du wirklich erfahren möchtest“, befahl sie kühl.
Da wagte Sophie eine Frage, die ihr vor Augenblicken noch unmöglich erschienen wäre. „Was ist meine Wahl?“
Eine ganze Weile hing diese Frage zwischen ihnen. Melusine zögerte einen Wimpernschlag, ehe sie fortfuhr, sich mit Bedacht abzutrocknen. Sophie fürchtete schon, sie habe sich wohl zu weit vorgewagt, denn das Schweigen hielt so lange an, dass es schien, als würden die Schatten bereits tiefer. Als Melusine sich dann endlich wieder angekleidet hatte, wandte sie sich zu Sophie um.
„Die Melusine aus der Sage traf ihre Wahl“, sagte sie leise und sah Sophie dabei unverwandt an.
„Sie beschloss, allein zu bleiben“, bemerkte Sophie.
Ihre Lehrmeisterin nickte knapp. „Ja, das tat sie. Aber warum? Ohne den Grund wirst du das Ende nicht erfahren.“
„Weil ihr Gemahl sie hinterging“, vermutete Sophie, doch offenbar irrte sie sich, denn Melusine hob die Augenbrauen.
„Sie hätte sich doch eigentlich denken müssen“, grübelte sie, „dass einer, dem man etwas ausdrücklich verwehrt, erst recht versuchen wird, es zu bekommen.“
Mit einem Mal begriff Sophie, dass die Geschichte offenkundig noch eine andere Seite hatte, die ihr bisher nicht aufgefallen war. „Dann hatte sie es ihm also absichtlich verboten“, hauchte sie bestürzt, als ihr die Folgen auf einmal klar wurden. „Als sie ihn zu seinem Gelübde zwang, wusste sie schon, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis er sein Versprechen bräche.“
„Das könnte gut sein“, bemerkte Melusine wie selbstverständlich. Sophie jedoch war nicht entgangen, wie ihre Augen aufblitzten, ehe sie den Blick abwandte.
„Aber wozu?“, rätselte sie laut, worauf ihre Lehrmeisterin wieder aufsah.
„Möglicherweise deshalb, weil ihr Fluch schwer auf ihr lastete“, sinnierte sie, und einmal mehr konnte sich Sophie des Gefühls nicht erwehren, dass Melusine keineswegs nur Mutmaßungen anstellte. Allerdings verwarf sie diesen Gedanken ebenso rasch, wie er ihr in den Kopf gekommen war.
„Wieso hat sie sich dann überhaupt mit ihm vermählt?“
Melusine seufzte und richtete den Blick düster in die Tiefen des Waldes. „Vielleicht“, wisperte sie stockend, „zog sie diese Welt ihrer Schattenwelt vor und meinte womöglich, nur durch die Liebe ließe sich ein Mittelweg finden.“
Ehe Sophie sich versah, streckte sie die Hand aus und berührte zum ersten Mal von ganz allein die Ältere an der Schulter. Nichts anderes spürte sie mehr als Melusines Schmerz, als ob es ihr eigener wäre. Wortlos legte die Lehrmeisterin ihre Hand auf Sophies Hand, ohne sie anzusehen.
„Und als sie seine Liebe dann auf die Probe stellte, verstieß er sie“, schloss Sophie murmelnd, und Melusine widersprach ihr nicht. Der Wald ringsum stand schwarz und schweigend; Dunkelheit senkte sich nieder, die Tiere richteten sich für die Nacht ein. Zu hören war nur das leise Gluckern des Wassers, das hinter ihnen ins Becken floss.
„Du, Sophie, bist eine von uns“, fuhr Melusine schließlich fort, wenngleich die Angesprochene mühsam die Ohren spitzen musste, um überhaupt etwas zu verstehen. „Wir beide sind Nachkommen der Melusine – einen Fuß in dieser Welt und einen in der anderen. Nur das allein verleiht uns die Gabe des zweiten Gesichts, das sowie der Preis, den wir zahlen müssen. Die Zeiten ändern sich; von Tag zu Tag wächst die Unduldsamkeit gegenüber Wesen wie uns, weil wir anders sind, auch wenn man uns einst mit großer Achtung begegnete. Da ist es für dich in diesen schweren Zeiten nicht leicht, deine Wahl zu treffen. Doch anderen vor dir ist es genauso ergangen.“
„Welche Wahl?“
„Die Wahl der Welt, in der du leben möchtest.“ Melusine drehte sich um und betrachtete Sophie geraume Zeit auf eine Weise, dass es der Jüngeren durch und durch ging. „Auch die Welt ändert sich, Sophie, und macht uns die Wahl schwer, einerlei, für welche Seite wir uns entscheiden. Doch wir, die wir den Preis schon entrichtet haben, können die Entscheidung nicht rückgängig
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