Ruf der Sehnsucht
nicht.«
»Er hatte Riesenzähne.« Sie schüttelte sich.
»Aber er ist nicht hier. Soll ich nachsehen?«
Sie überlegte und sagte dann: »Ja, bitte, Papa.«
Er suchte gründlich unter dem Bett und im Kleiderschrank. Als er sich umdrehte, bemerkte er Jeanne, sagte jedoch nichts, um Margaret nicht aufmerksam zu machen.
»Kein Wolf da, Meggie.«
Sie rutschte weiter unter die Decke und nickte. »Kannst du trotzdem hierbleiben, bis ich eingeschlafen bin?«
»Natürlich. Und dann wird Betty auf dich aufpassen, wenn du willst.«
In diesem Moment glitt Margarets Blick zur Verbindungstür, und Jeanne stockte der Atem angesichts ihrer fast unwirklichen Schönheit. Das Porträt in der Bibliothek wurde ihr nicht gerecht, aber wahrscheinlich würde es keinem Künstler gelingen, den Zauber dieses Kindes einzufangen.
»Wer ist das, Papa?«
Douglas schaute zu Jeanne. »Deine Gouvernante, Meggie. Miss du Marchand.«
Jeanne wusste nicht, ob sie an der Tür stehen bleiben oder das Zimmer betreten sollte. Margaret machte ihrer Unsicherheit ein Ende, indem sie aus dem Bett sprang und zu ihr kam.
Sie öffnete die Tür zur Gänze und vollführte einen formvollendeten Knicks.
»Guten Abend, Miss Marchand. Ich bin Margaret MacRae. Seid Ihr wirklich meine Gouvernante?«
Jeanne wechselte einen Blick mit Douglas und antwortete dann: »Ja, das bin ich.«
»Ich hatte noch nie eine Gouvernante. Papa sagt, weil ich noch nicht alt genug war. Ich lese viel. Das habe ich mir selbst beigebracht. Aber alles kann ich mir nicht selbst beibringen.«
Jeanne lächelte das Kind überrascht an. »Nein, das kannst du nicht.«
»Könnt Ihr Latein?«
»Nur ein wenig«, gestand Jeanne. »Aber Italienisch.«
»Dann lerne ich eben das. Und Geographie. Ich bin eine Erbin, wisst Ihr, und ich muss lernen, so viel ich kann, bevor ich reich werde.«
»Es genügt, wenn du morgen beginnst, das Wissen deiner Gouvernante zu ergründen«, mischte ihr Vater sich ein. Er klopfte auf die Decke, und Margaret kletterte zurück ins Bett.
Douglas stand auf, beugte sich hinunter und küsste seine Tochter auf die Stirn. Margaret legte sich hin und blickte vertrauensvoll zu ihm auf. Das Bild griff Jeanne ans Herz.
»Du hast doch gesagt, du bleibst bei mir, bis ich eingeschlafen bin«, erinnerte das Mädchen seinen Vater.
»Ich komme gleich wieder«, versprach er.
»Sie ist sehr intelligent«, sagte Jeanne, als Douglas sie nach nebenan begleitete.
»Margaret hat viel von ihrer Mutter.«
Jeanne hätte gerne mehr über die namenlose, gesichtslose Frau erfahren, konnte sich jedoch nicht überwinden, nach ihr zu fragen.
»Du musst entschuldigen«, sagte sie stattdessen. »Ich wollte euch nicht stören – aber als ich aufwachte, sah ich die offene Tür.«
»Es ist mitten in der Nacht. Was hältst du von einem Schlaftrunk?« Er lächelte. »Meine Schwägerin empfiehlt einen chinesischen Tee. Möchtest du welchen?«
Bevor sie erwidern konnte, dass ihretwegen niemand vom Personal aus dem Bett geholt werden sollte, setzte er hinzu: »Ich würde ihn selbst für dich zubereiten.«
»Wenn es keine zu große Mühe ist.«
»Überhaupt keine.«
Wie ungemein höflich sie miteinander umgingen. Jeanne folgte ihm den Korridor hinunter und betrachtete ihn dann vom Treppenabsatz aus, als er die Stufen hinunterging. Sein Hausmantel war vom gleichen Dunkelblau wie seine Augen, und sie fragte sich, ob wohl eine Frau den Stoff ausgesucht hatte.
»Du darfst nicht mehr zu mir kommen.« Sie hatte nicht so damit herausplatzen wollen, aber es musste geklärt werden.
Er schaute sich kurz zu ihr um, blieb jedoch nicht stehen. »Warum nicht?«
Ärgerlich starrte sie auf seinen Rücken. »Weil deine Tochter im Haus ist. Ich habe dir schon am ersten Abend gesagt, dass ich weder Gouvernante noch Mätresse zu sein gedenke.«
Er reagierte nicht.
Am Fuß der Treppe wartete er auf sie. Jeanne blieb auf der untersten Stufe stehen, um in Augenhöhe mit ihm zu sein – sie wollte in dieser Situation nicht von ihm überragt werden. Energisch zog sie den Gürtel ihres Morgenmantels fester zu. Douglas lächelte, denn natürlich wäre der dünne Stoff im Ernstfall kein wirklicher Schutz vor seinem Verlangen – oder vor ihrem.
Trotzig wiederholte sie: »Du darfst nicht mehr zu mir kommen.« Sogar sie selbst hörte die Sehnsucht in ihrer Stimme, und ihm entging sie offenbar auch nicht, denn er hob die Hand und ließ einen Finger von ihrer Kehle über ihre Brust zu ihrer Taille wandern.
In
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