Ruf Der Tiefe
versunken. Vielleicht hatte es ihm gutgetan, die Station zu verlassen, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
Gemeinsam blickten sie hinaus über das Meer und lauschten den Brechern, die mit einem dumpfen Donnern auf den Strand krachten.
Dann wandte sich Leon ihr zu, seine grünen Augen musterten sie. »Wie hast du überhaupt rausgekriegt, wo ich bin?«
»Auch auf Hawaii gibt’s nicht unbegrenzt viele Täler mit Verrückten«, sagte Carima.
Leons Mundwinkel gingen nach oben. »Eigentlich genau der richtige Ort für jemanden wie mich.«
Carima grinste zurück. »Wenn meine Mutter merkt, dass ich den Wagen genommen habe, wird sie wahrscheinlich auch ein paar dementsprechende Dinge über mich sagen.«
Einen Moment lang schwieg Leon, blickte über das Meer hinaus und aus dem Augenwinkel musterte Carima das klare, scharf geschnittene Profil seines Gesichts. Als er wieder sprach, war seine Stimme ein Flüstern, das über dem Tosen der Wellen kaum zu verstehen war. »Mir ist fast das Herz stehen geblieben, als ich dich gesehen habe.«
Ein Schauder überlief Carima. Ihr Herz pochte wie verrückt. »Ich … ich … habe mich gewundert, dass keine Mails mehr von dir kamen. Aber als du angerufen hast …«
Wieder blickte er sie an, besorgt diesmal und ein wenig forschend. »Du bringst dich meinetwegen ganz schön in Schwierigkeiten.«
Plötzlich mussten sie beide lächeln, ohne wirklich zu wissen, warum. »Weißt du, was ich gemacht habe? Ich habe mich krank gestellt, sogar rumgewürgt beim Frühstück, damit wir nicht vorzeitig abfliegen.«
Aus seinem Lächeln wurde ein breites Grinsen. »Das hast du? Wow. Hätt ich gerne gesehen.«
Carima musste kichern. »Na ja, für eine Rolle in irgendeinem B-Movie hätte es gerade gereicht. Nur dass man da auch noch Erbsenbrei in den Mund nehmen und im richtigen Moment rausspucken muss.«
Sie wunderte sich darüber, dass die Vertrautheit zwischen ihnen wieder da war. Schon nach so kurzer Zeit. »Komm, lass mich dich erst mal verarzten«, sagte sie. »Sonst wird es zu dunkel und ich klebe das Pflaster auf die falsche Stelle.«
»Ich fürchte, du brauchst nicht nur ein Pflaster, sondern vier. Aber das kannst du dir ja gleich anschauen.«
Carima schaute im Verbandskasten nach, was sie überhaupt zur Verfügung hatte. Sah ganz brauchbar aus. Sanft begann sie, den blutigen Verband von seinem Arm zu wickeln und die vier parallelen Schnitte mit Alkoholtupfern aus dem Kasten zu reinigen. Es brachte sie durcheinander, Leon so nahe zu sein, ihn zu berühren, und vielleicht ging es ihm ähnlich, denn sie sah, dass eine Gänsehaut seine Arme überzog.
»Wie ist das denn passiert?«, fragte sie, auch um sich abzulenken. »War das ein Hai?«
»Ziemlich gut geraten«, sagte Leon trocken. »Aber einer, der sprechen konnte und behauptet hat, ich sei ja wohl ein Götterbote.«
Schon wieder hatte er es geschafft, sie zum Lachen zu bringen. »He, das klingt, als hätten sie dir in der Kolonie als Erstes ein bisschen frisches LSD verabreicht. Oder selbst angebautes Cannabis.«
»Nee.« Leon verzog das Gesicht, vielleicht auch deshalb, weil Carima jetzt gerade eine Bandage auf die Wunde legte und das Ganze mit Verbandsmull umwickelte. Seine Stimme klang ein bisschen gepresst, als er sich bedankte.
Carima ging hinüber zur Flussmündung, tauchte ihre Hände ein und rieb sie gegeneinander, schrubbte sie mit Sand ab. Leon rief irgendetwas, aber er war zu weit weg, sie verstand ihn nicht. Als sie zurückkam, sagte er: »Dreh dem Meer nie den Rücken zu. Kann immer mal passieren, dass aus mehreren Wellen eine große wird, und wenn du das nicht mitkriegst und sie dich erwischt, kann dir das ziemlich den Tag verderben.«
Erschrocken blickte Carima auf den Pazifik hinaus und nickte. In manchen Momenten kam ihr das Meer vor wie ein schlafendes Raubtier und vielleicht lag sie damit gar nicht so falsch.
Leon atmete einmal tief durch. »Hast du eigentlich etwas herausgefunden? Über die Daten, die ich dir diktiert habe?«
So nüchtern und präzise, wie sie es schaffte, gab Carima ihm weiter, was ihr der Professor erzählt hatte.
»So was in der Art habe ich befürchtet«, sagte Leon und stützte den Kopf in die Hände. »Stammzellen! Ich frage mich, ob sie Lucy vielleicht sogar ursprünglich dafür gezüchtet haben. Obwohl – nein, das ist unwahrscheinlich. Sonst hätten die Typen sie im Labor behalten und gar nicht erst ins Freiwasser gelassen. Wahrscheinlich haben sie die Zellen durch
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