Ruf Der Tiefe
machen durfte. Trotzdem war Carimas T-Shirt durchgeschwitzt, als sie den Toyota auf der Straße hatte.
Sie atmete noch einmal tief durch und presste die Zehen vorsichtig aufs Gaspedal.
Großviel gut
Charlene war eine nicht gerade dünne junge Frau mit blonden Locken. Sie beäugte Leon misstrauisch, als er sie nach dem Telefon fragte, und presste dabei ein zerlesenes Taschenbuch wie einen Schutzschild vor ihre Brust. »Du bist also der ARAC-Typ«, sagte sie, und Leon staunte, wie schnell sich die Informationen über ihn herumgesprochen hatten. »Joe hat gesagt, es ist okay, wenn ich telefoniere.«
»Hat er dir schon eine Tuesday gegeben?«
»Eine was? Eine Dienstag?«
Charlene lächelte und drehte das Buch, das sie hielt, in den Händen. »Das Buch, wegen dem wir alle hier sind. Suzannah Tuesday: No Compromise . Mein Weg zum wahren Leben . Sag bloß, du hast noch nie davon gehört?«
Verlegen schüttelte Leon den Kopf, und als Charlene loslegte, wurde ihm klar, was der Preis für das Telefongespräch war. Erst musste er sich von dieser Frau vollquatschen lassen.
»Im Ernst? Du kennst es nicht? Die Tuesday war ein Model, total erfolgreich, flog ständig durch die Welt, gründete eine PR-Agentur … und dann, bei einem Urlaub in der Bretagne, ist sie einem Fischer begegnet, Alexandre Le Moullec. Sie haben sich zwei Wochen lang jeden Tag getroffen und einfach nur geredet. Über ihr Leben. Über die Welt.« Charlenes Gesicht leuchtete, jetzt sah sie fast hübsch aus. »Und Suzannah wurde klar, so geht es nicht weiter, sie will diesen Konsumwahn, diese schnelllebige, zerstörerische Lebensweise nicht mehr. Von einem Tag auf den anderen hat sie ihre Agentur geschlossen und sich in Kanada niedergelassen. Ihr Buch ist erst in einem ganz kleinen Verlag erschienen, ohne jede Werbung, aber inzwischen kennt es jeder.«
Ehrfürchtig berührte sie den Anhänger um ihren Hals. »Alexandre Le Moullec sagt, er habe seine Seele ans Meer verloren. Er ist kein Fischer mehr, sondern Schmied. Jedes einzelne Triskell, das wir tragen, stammt von ihm. Er und Suzannah schreiben sich noch immer ab und zu. Nur echte Briefe oder sogar manchmal eine Flaschenpost, aber niemals Mails.«
Leon lächelte höflich. Klang ein bisschen kitschig, die ganze Geschichte. Was für ein Pech, dass er ausgerechnet bei solchen Träumern gelandet war! Doch es gab etwas an der Sache, das ihn interessierte. Seine Seele ans Meer verloren . Ja, wie sich das anfühlte, wusste er. »Leihst du mir das Buch mal?«
»Na klar«, sagte Charlene strahlend und dann bekam Leon endlich auch das Telefon.
Er erreichte Carima sofort – endlich hörte er wieder ihre Stimme! Danach war er ein paar Momente lang ganz woanders, versunken in einem Traum, aus dem er noch nicht erwachen wollte. Doch die Sorgen nagten an ihm, drängten ihn in die Wirklichkeit zurück. Hoffentlich fand Carima heraus, was diese seltsamen Angaben auf dem Datenblatt bedeuteten und was mit Lucy los war. Leon setzte sich hinter die Hütten an den Waldrand und versuchte ein paar Zeilen in No Compromise zu lesen, doch die Worte kamen einfach nicht in seinem Kopf an. Damals auf der Benthos II mit Carima zu reden, dort im dunklen Lagerraum ihre Hand zu halten … das hatte etwas in ihm verändert. Er war nur noch nicht sicher, was genau.
Dass die Hütte, in deren Nähe er saß, Big T. gehörte, wurde Leon erst klar, als sich der schlaksige NoCom mit dem Basketball-Outfit aus der Tür duckte und ihn musterte. Anscheinend wollte er kommentarlos vorbeischlurfen, und Leon wusste nicht genau, warum er selbst sagte: »Du hast hier bestimmt irgendwo einen Basketballkorb.«
Big T. blieb stehen. »Wenn du genau hingeschaut hättest, wär er dir schon aufgefallen. Da an meiner Hütte. Könnten mal ein paar Körbe werfen.«
Es war eine eher gleichgültige Einladung; Leon nickte und wandte sich wieder seinem Buch zu. Doch Big T. blieb einfach stehen, und Leon wurde klar, dass der Hacker jetzt gemeint hatte. Versuchsweise bewegte Leon den Arm und verzog das Gesicht. »Besser, wir machen das morgen, das hier fühlt sich noch nicht so gut an.«
»Der Kratzer da?«, sagte Big T. ungläubig.
Leon presste die Lippen zusammen. Nein, das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Er legte das Buch beiseite und stand auf.
Tim hatte ihm beigebracht, wie man spielte, und in der San Diego School of the Sea hatte Leon sich nachmittags hin und wieder mit den anderen Jungs – unter anderem Julian – getroffen, um Körbe zu
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