Ruf Der Tiefe
fährt kein Zug, werden keine Medikamente hergestellt. Aber weißt du, was es anrichtet, dass wir hemmungslos Öl und Kohle verbrennen? Wir verpesten die Luft, verändern das Klima und ziehen uns damit selbst den Boden unter den Füßen weg.« Ihre Stimme war hart und nüchtern. »Außerdem wird es bald vorbei sein mit Kohle und Öl, lange reichen die Vorräte nicht mehr. Und noch ist kein Ausweg in Sicht. Atomenergie? Nein, die ist keine Antwort, mit ihr laden wir uns eine furchtbare Last und Gefahr auf.«
»Wasserkraft, Sonnen- und Windenergie sind ein Teil der Lösung«, hakte Tim nahtlos ein. »Aber es reicht längst nicht. Wir müssen weitersuchen, jede Chance nutzen. Eine Weile dachte jeder, Methanhydrate – verfestigtes Gas vom Meeresboden – könnten die Zukunft sein, doch nach dem schweren Unfall letztes Jahr lassen die meisten Unternehmen die Finger davon. Das Zeug ist einfach zu riskant.«
»Deshalb setzen wir jetzt auf Energie aus dem heißen Erdinneren. In Island, wo sie viele Vulkane haben, ist das längst üblich und auch hier in Hawaii.« Fabienne Rogers wieder. »Und so haben wir uns entschieden, den Versuch zu wagen. Ein Schwarzer Raucher ist nichts anderes als ein Gigawatt-Kraftwerk am Meeresboden! Das heiße Wasser könnte eine Turbine antreiben. So gewinnen wir Strom, und obwohl die ersten Versuche von HotPower tatsächlich ein Fehlschlag waren, haben sie schon viele wertvolle Erkenntnisse gebracht. Ich würde sogar behaupten, das Projekt ist weit weniger gefährlicher, als eine gewöhnliche Bohrinsel zu betreiben – erinnerst du dich noch an den Untergang der Deepwater Horizon im Jahr 2010, an den furchtbaren Ölteppich an der Küste von Louisiana?«
»Ja, aber …«, sagte Leon, wollte fragen, warum sie die Bohrung dann überhaupt geheim gehalten hatten, was denn die Geologen des Konzerns zu der ganzen Sache sagten, ob die ARAC zumindest versucht hatte, sich das Projekt von den Behörden genehmigen zu lassen. Doch ihm fehlte plötzlich die Kraft, auch nur eine dieser Fragen zu stellen. Sein ganzer Körper tat weh, ihm war schwindelig und ein bisschen übel, wahrscheinlich von diesem Schlag gegen den Kopf. Er flüsterte: »Könnte ich bitte etwas zu trinken haben?«
»Na klar. Sorry.« Tim sagte leise etwas in ein Funkgerät und eine Minute später kam eine schlanke dunkelhäutige Frau mit einer Karaffe Wasser und ein paar Bechern herein. Gehörte die zur Besatzung dieser seltsamen Anlage? Sie betrachtete ihn neugierig und mit einer Spur von Mitleid, sagte aber kein Wort und verschwand sofort wieder. Gierig stürzte Leon das Wasser hinunter.
»So, Leon.« Fabienne Rogers beugte sich über den Tisch. »Jetzt aber mal zu einem ganz anderen Thema. Wo ist Lucy?«
»In Sicherheit«, sagte Leon trotzig. »Ihr habt in Kauf genommen, dass diese Stammzellen-Entnahmen ihr Leben verkürzen, und trotzdem habt ihr es getan.«
»Ich weiß zwar nicht, wie du es herausgefunden hast, aber ja, wir haben tatsächlich Stammzellen in Lucys Körper gefunden – das muss damit zusammenhängen, wie wir ihre Gene verändert haben«, gestand Tim ein. »Es wäre besser gewesen, wir hätten es dir gleich gesagt. Doch es war eine so bedeutende Entdeckung, dass wir sie aus patentrechtlichen Gründen erst einmal vertraulich behandelt haben. Mit Stammzellen könnten wir einmal imstande sein, Diabetes zu heilen, Herzkrankheiten, womöglich Alzheimer. Jetzt mal ehrlich, Leon, sind ein paar Lebensjahre eines einzelnen Tieres es wirklich wert, der Menschheit all das vorzuenthalten?«
Leon schwieg. Lucy opfern für das Wohl der Menschheit? Konnte er das tun? Alles in ihm schrie Nein , doch es machte ihn fertig, dass allmählich er es war, der als der Böse dastand, als Egoist vom Dienst. Woher sollten sie auch wissen, dass Lucy kein Tier war, wie sie es kannten, dass sie und er sich von Kopf zu Kopf unterhielten – glauben würde ihm das sowieso keiner! Und er konnte nicht mal die Öffentlichkeit auf Lucys Schicksal aufmerksam machen, denn sobald das mit den Stammzellen herauskam, bewirkte seine Enthüllung höchstens, dass der Aktienkurs der ARAC kräftig stieg!
»Wenn du Lucy zurückbringst, dann werden wir uns großzügig zeigen. Du darfst sie weiterhin betreuen, und es gäbe auch keine Einwände dagegen, dass du wieder für uns tauchst«, sagte Fabienne Rogers und lehnte sich über den Tisch, kam ihm so nah, dass Leon unwillkürlich zurückwich. »Wenn du sie nicht zurückbringst, dann bist du bald ein ganz
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