Ruf Der Tiefe
sagte Carima und hörte selbst, dass ihre Stimme erstickt klang. Nichts war okay. Das hieß doch, dass er eigentlich keine Hoffnung sah. Und das, obwohl sie Vensen das Schlimmste verschwiegen hatte: dass bei der Entführung auch sein Adoptivvater dabei gewesen war, sein Erziehungsberechtigter, in Gottes Namen, aber auch für die gab’s ja wohl Grenzen, was sie legal mit ihren Kindern anstellen durften!
Wohin jetzt? Was jetzt? Sie hielt es nicht aus, einfach hier in Hilo herumzulungern und zu warten, während diese Kerle wer weiß was mit Leon anstellten. Verzweifelt umklammerte Carima das Lenkrad des Toyota und starrte auf die Tankanzeige, die jetzt weniger als halb voll zeigte; fast wie von selbst bewegte sich die schwere Maschine durch die Straßen von Hilo, geradeaus, immer geradeaus. Carima schreckte erst auf, als sie auf einem Wegweiser den Namen Honokaa las – he, war das nicht ganz in der Nähe des Waipi’o Valley? Plötzlich kam ihr eine Idee.
Sie würde zurückfahren ins Tal. Das war es! Vielleicht konnten die NoComs ihnen helfen, sicher hatten sie ein Boot. Raus aufs Meer, ja, dorthin musste sie! Dorthin hatten sie Leon gebracht, aus irgendeinem Grund war Carima ganz sicher. Leons Geschichte war so eng mit der des Meeres verwoben. Er würde sterben, wenn sie ihn woanders hinbrachten, und das wussten sie, das mussten sie einfach wissen …
Carima verzog den Mund. Geht’s noch? Was für einen Blödsinn fantasierst du dir da eigentlich zurecht?
Sie zuckte zusammen, als das Handy in ihrer Hosentasche klingelte. Oh Mann, sie hatte vergessen, das Ding wieder auszuschalten! Schon während sie am Straßenrand hielt und das Handy hervorkramte, ahnte sie, wer da anrief, und das schlechte Gewissen überfiel sie.
»Carima?« Die Stimme ihrer Mutter, ungläubig klang sie.
»Äh, ja«, sagte Carima. »Ich bin’s.«
»Sweet Jesus, was hast du die ganze Zeit gemacht? Fährst du etwa immer noch den Toyota? Wieso hast du dich nicht ein einziges Mal gemeldet, du hättest dir doch denken können, dass ich …«
Ja, das alles hatte sie verdient, das und noch viel mehr. »Es tut mir leid«, unterbrach sie Carima. »Wirklich. Es geht mir gut, Ma. Ich musste … ich … Es ist wirklich wichtig.«
»Wichtig? Was denn? Sag mir nur, warum du das alles getan hast!«
»Ein Freund von mir brauchte Hilfe.«
»Ein Freund? Was denn für ein Freund – hier auf den Inseln?« Ihre Mutter klang, als habe Carima gerade etwas von einem Pakt mit dem Teufel erzählt.
»Er heißt Leon«, flüsterte Carima. »Leon Redway.« Und dann konnte sie nicht weitersprechen, weil ihre Kehle eng wurde und ihre Augen brannten. Noch während ihre Mutter »Und wann kommst du endlich zu…« sagte, glitten Carimas Finger zum Aus-Knopf.
Der Himmel war grau wie die Haut eines Riff-Hais, es nieselte und die Scheibenwischer verrieben den Dreck auf der Windschutzscheibe. Fast endlos schien sich die Straße vor ihr zu dehnen, bis sie endlich angekommen war an der oberen Kante des Waipi’o Valley. Von hier aus führte die schwindelerregend steile kleine Straße nach unten, ins Tal. Normalerweise hätte Carima den Wagen jetzt wieder irgendwo im Gebüsch geparkt und wäre zu Fuß gegangen, aber dafür war jetzt keine Zeit. Wo schaltete man noch mal den Vierradantrieb an? Irgendwo war dafür doch ein Knopf – ja, dort war er!
Carima flüsterte »Los geht’s«, und nahm den Fuß von der Bremse. Fast senkrecht schien die Schotterstraße nach unten zu führen, und der Wagen neigte die Schnauze in die Tiefe, sein eigenes Gewicht schob ihn voran. Oh Gott, gleich überschlägt sich das Ding! Jetzt! Am liebsten hätte Carima geschrien, doch sie bekam sowieso kaum noch Luft vor Angst.
Und dann war sie im Tal angekommen. Carima hielt an, der Motor grummelte im Leerlauf vor sich hin. Ihr T-Shirt war klatschnass geschwitzt und ihre Beine fühlten sich an wie Gummi. Trotzdem versuchte sie auf dem Weg zur Siedlung zu rennen, aber sie schaffte immer nur ein paar Schritte am Stück, ihr linkes Bein tat zu weh.
Auf halbem Weg fing Johnny, der junge Asiate, sie ab. »Hi – na, zurück? Wo ist Leon?«
»Sie haben ihn erwischt«, stieß Carima hervor.
Wenige Minuten später stand sie auf dem Versammlungsplatz, um sich herum ein Dutzend NoComs, und berichtete, was geschehen war. Ernst hörten die jungen Männer und Frauen ihr zu.
»Big T., versuch mal, ob du Jonah Simmonds per Funk erreichst, vielleicht ist er mit der Lovely Lucy gerade in der Nähe«, kommandierte
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