Ruf Der Tiefe
Stimme überraschend sanft. »Wahrscheinlich erinnerst du dich nicht, es ist schon mehr als zehn Jahre her. Damals wohntet ihr noch in Kalifornien. Mein Mann und ich, wir waren mit deinen Eltern und dir am Strand, damals haben wir uns hin und wieder auch privat getroffen, weil wir uns gut verstanden. Du warst die ganze Zeit über mit Taucherbrille und Flossen im Wasser, und dann kamst du strahlend zu uns gerannt und sagtest, wir sollen uns deinen Freund ansehen.«
»Meinen Freund?«, wiederholte Leon apathisch.
»Ja. Dort im Flachwasser zwischen den Felsen ringelte sich eine junge Muräne. Deine Eltern haben beinahe einen Herzanfall bekommen, weil sie ganz nah um dich herumgeschwommen ist und du sie einfach gestreichelt hast.« Fabienne Rogers lächelte. »Wenn sie dich gebissen hätte, hätten wir dich direkt ins Krankenhaus bringen müssen. Aber sie hat dich nicht gebissen, und du sahst so aus, als wüsstest du genau, dass sie es nicht tun würde. Ganz sanft hast du sie berührt. Tja, da kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass du eine besondere Verbindung zum Meer und seinen Geschöpfen hast …«
»Sie haben mich ins Projekt OceanPartner aufgenommen, weil ich mit sechs Jahren eine Muräne gestreichelt habe?«, wiederholte Leon ungläubig. Er konnte sich an den ganzen Vorfall nicht im Geringsten erinnern.
»Sag selbst, Leon, hat mich meine Intuition getäuscht?«
Mit zusammengepressten Lippen schüttelte Leon den Kopf. »Aber was ist mit meinen Eltern? Sie wurden euch irgendwann lästig, stimmt’s?«
Fabienne Rogers zuckte mit keiner Wimper. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Haben Ihre Leute meine Mutter vom Boot gestoßen?«
»Du willst nicht akzeptieren, dass es so etwas wie Schicksal gibt. Das verstehe ich gut. Aber es bringt uns jetzt absolut nicht weiter.«
»Kann ich mit den Leuten reden, die an Bord waren?«
Ein schmales Lächeln. »Gerne, wenn du sie ausfindig machen kannst. Wenn ich mich recht entsinne, arbeiten beide nicht mehr für uns.«
Schon wieder eine Sackgasse. Leon blickte auf den Vertrag, der auf dem Tisch lag, auf den Kugelschreiber, der zwischen seinen Fingern steckte und sich dort so fremd anfühlte wie ein Stück Holz. Er musste nur unterschreiben, dann würde er weiterhin mit OxySkins tauchen können, bis in die dunklen Tiefen, bis zum Herzen der Welt.
»Nie habe ich dich aus den Augen verloren, in all den Jahren nicht«, sagte Fabienne Rogers leise. »Du hast alle unsere Erwartungen übertroffen, immer wieder. Wirf das nicht weg, Leon. Das Meer ist dein Leben.«
Leons Finger schlossen sich um den Kugelschreiber – doch dann tauchte aus seinem Gedächtnis unerwartet einer von Lucys Sprüchen auf. Nicht ungeschickt, Zweiarm. Eure Pfoten sind fast so gut wie Saugnäpfe!
Tränen traten in seine Augen, mit einem schnellen Ruck zerbrach er den Kugelschreiber in den Händen. Und er wusste, dass er seinen letzten Trumpf ausspielen musste. Jetzt, bevor es zu spät war.
»Wecken Sie Tim auf«, sagte Leon. »Ich habe ihm und Ihnen etwas zu sagen. Und besser, Sie beeilen sich, sonst überlege ich es mir vielleicht wieder anders.«
Ein kurzer Funkspruch, und fünf Minuten später tauchte Tim auf, rieb sich die Augen und blickte schuldbewusst drein.
Und dann sagte Leon es ihnen. Sagte ihnen, wie es kam, dass er sich so viel besser mit Lucy verständigen konnte als die anderen Taucher mit ihren Partnern. Er erzählte ihnen, wie alles angefangen hatte – wie er damals, als Lucy noch in seine Handfläche gepasst hatte, Gefühle gespürt hatte, von denen er dachte, sie kämen aus ihm selbst. Wie lange es gedauert hatte, bis er akzeptieren konnte, dass das nicht stimmte und es stattdessen die Empfindungen dieses kleinen, zerbrechlichen, unglaublich fremdartigen Wesens waren. Wie es Monate gedauert hatte, bis diese Gefühle die Form einzelner Worte angenommen hatten, und dass er und Lucy sich erst seit zwei Jahren in ganzen Sätzen unterhalten konnten. Von Kopf zu Kopf.
Tim starrte ihn an. Ohne den Blick von ihm abzuwenden, sagte er zu Fabienne Rogers: »Vor ein paar Jahren hat er mal versucht, mir davon zu erzählen. Ich fürchte, damals habe ich nur gelacht.«
Diesmal lachte niemand. Doch Leon war nicht sicher, ob sie ihm wirklich glaubten.
»Ich kann es beweisen«, sagte er müde. »Seit Jahren warne ich die Benthos II jetzt schon vor Seebeben. Hast du dich nie gewundert, Tim, wie ich das schaffe?«
»Na klar. Aber du hast mir nie eine richtige Antwort gegeben.«
Irgendwie
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