Ruf Der Tiefe
wenige Stühle. Die kahlen Wände waren aus Metall, der Boden aus blauem Kunststoff.
Fabienne Rogers ließ sich auf einem der Stühle nieder; sie trug einen eleganten seidenen Trainingsanzug und Sneakers. Ihre Frisur saß perfekt. Im Vergleich zu ihr sah Tim mit seinem Dreitagebart und dem einfachen T-Shirt aus wie der Deckschlosser eines Containerfrachters.
»Wo sind wir hier?«, fragte Leon.
»Das tut nichts zur Sache«, sagte Fabienne Rogers – doch in diesem Moment ertönte eine Sirene, und dann spürte Leon eine Abwärtsbewegung, hörte er das Gurgeln von einströmendem Wasser. Auf seinen Armen bildete sich eine Gänsehaut. In einer einzigen schnellen Bewegung war er auf den Füßen, rüttelte an der Tür, hämmerte gegen das Metall.
»Keine Sorge«, sagte Tim. »Wir sinken nicht.«
Schwer atmend lehnte sich Leon mit dem Rücken gegen die Tür. »Wir tauchen? Wohin – wie tief?«
»Nur zwanzig Meter«, sagte Fabienne Rogers und deutete auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches. Wie in Trance ging Leon darauf zu, setzte sich. Zwanzig Meter. Das war gerade so tief, dass niemand sie finden würde. Von der Luft aus waren sie jetzt nicht mehr zu entdecken. Ein ziemlich gutes Gefängnis. Eins war klar, so einfach würde die ARAC ihn nicht mehr gehen lassen. Anscheinend hatte er mehr herausgefunden, als in ihrem Interesse lag. Viel mehr.
Fabienne Rogers lächelte noch immer; wahrscheinlich hätte sie ihm am liebsten Tee und Kekse angeboten. Das wäre gar nicht so schlecht gewesen – Leon hatte rasenden Durst, sein Mund fühlte sich pappig und ausgedörrt an. Doch vielleicht kam das auch von der Angst. Würden sie ihn einfach nur verhören? Oder Schlimmeres? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen, nicht solange Tim da war. Aber er hatte auch nicht damit gerechnet, dass die ARAC-Leute ihn zusammenschlagen würden.
»Du hast mit einigen deiner Vermutungen richtiggelegen, Leon«, sagte Fabienne Rogers jetzt. »Eins unserer vielen Projekte hat tatsächlich mit den Schwarzen Rauchern zu tun. Das Sonar-Echo, das ihr auf der Benthos II erfasst habt, war eins unserer Tauchboote. Es hat den Fortgang der Bohrung überprüft.«
»Der Bohrung? Ihr habt also tatsächlich …?«, entfuhr es Leon.
»Ja. Und wie du schon erraten hast, ist dabei leider etwas schiefgegangen.« Jetzt war es Tim, der das Wort ergriff. Er lächelte verlegen. »Das war es vermutlich auch, was die Meeresökologie in der ganzen Region durcheinandergebracht hat. Durch die Bohrung sind alle möglichen Stoffe aus dem Erdinneren ausgeströmt, die sich mit den Meeresströmungen verteilt haben – einige davon waren Nährstoffe für Algen. Jetzt kannst du dir denken, wie die Todeszonen entstanden sind.«
Leon nickte langsam. Wenn die Algen mehr Nahrung fanden, vermehrten sie sich massenhaft – und irgendwann starben sie dann wieder ab und sanken auf den Meeresboden. Bakterien verzehrten sie und brauchten dabei sämtlichen Sauerstoff auf. Doch ohne Sauerstoff war kein Leben möglich und so hatten viele Tiefseebewohner den Tod gefunden – und Leon beinahe auch. »Aber das ist noch nicht alles, oder?«
»Giftstoffe aus der Erdkruste sind auch ausgeströmt, zum Beispiel Schwefelverbindungen«, gestand Tim. »Sicher auch ein Grund, warum so viele Lebewesen aus der Tiefsee an die Oberfläche geflüchtet sind.«
»Wir haben unser Bestes getan, den Schaden zu begrenzen«, hakte Fabienne Rogers ein. »Wir sind sicher, in ein paar Tagen oder Wochen ist das Ganze vergessen und alles kehrt wieder zum Normalzustand zurück. Die Natur hat eine erstaunliche Fähigkeit, sich zu regenerieren. Der nächste Versuch wird gelingen.«
Leon starrte seinen Adoptivvater an und versuchte zu begreifen, was er hörte. Die ganze Zeit über hatte Tim gewusst, was los war. Deshalb also hatten seine Hände bei ihrem Skype-Gespräch nach dem Unfall gezittert – in diesem Moment war ihm klar geworden, was für Folgen der Betriebsunfall der ARAC hatte und dass er beinahe seinen Adoptivsohn getötet hätte.
»Läuft das Projekt immer noch? Macht ihr etwa weiter?«, fragte Leon ungläubig. »Ihr seid ja verrückt. Ist euch immer noch nicht klar, wie gefährlich das ist? Allein diese Seebeben, die das anscheinend auslöst …«
»Leon, ich weiß nicht, ob dir klar ist, was hier auf dem Spiel steht«, sagte Fabienne Rogers ruhig.
»Viel Geld, schätze ich!«
»Nein, Leon. Nicht nur. Längst nicht nur. Die Menschheit braucht Energie. Ohne Energie läuft kein Computer,
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