Ruf Der Tiefe
nicht, wahrscheinlich würde sie sich ohnehin weigern, sie zu begleiten. Nicht mal die Handzeichen und Kommandos, auf die sie reagierte, wusste Carima, wieso hatte sie sich nicht einmal die wichtigsten von Leon zeigen lassen?
Lucy, wo bist du?, dachte sie hilflos, während sie ins Wasser blickte. Wir brauchen dich, Leon braucht dich!
Auf einmal war ihr, als habe sie eine Berührung gespürt, als habe ihr jemand mit den Fingerspitzen über den Arm gestrichen. Doch als sie schnell zur Seite blickte, war dort niemand, Hope stand mehr als zwei Meter entfernt und der Kater thronte inzwischen ganz oben auf dem Ruderhaus.
Auch Hope blickte über die Bordwand – und plötzlich stieß er einen Laut aus, halb verblüfft, halb erschrocken. »Da!«, keuchte er und dann entdeckte Carima es auch.
Ein großer dunkler Körper schwebte im Wasser, und zwischen den Wellen sah Carima Arme mit Saugnäpfen, die sich behutsam am Rumpf nach oben und zur Seite tasteten.
»Ist sie das? Wie hast du das gemacht?«, fragte Hope, doch Carima schüttelte den Kopf, sie wusste es selbst nicht. Egal. Jetzt konnten sie los. Jedenfalls, wenn sich dieser komische Kapitän irgendwann von Lucys Anblick losreißen konnte; sie schien ihn hypnotisiert zu haben.
»In welche Richtung, äh, soll’s gehen?«, fragte Simmonds schließlich, er klang ein bisschen durcheinander.
Hope und Carima blickten sich an. Hope hatte ein so offenes, ehrliches Gesicht, man sah jedes Gefühl darauf und im Moment war es die pure Ratlosigkeit. »Du hast auch keine Ahnung, wo sie ihn hingebracht haben könnten, oder?«
Mit einer Grimasse schüttelte Carima den Kopf und versuchte sich daran zu erinnern, was Leon alles erzählt hatte. Von irgendwoher schlich sich ein Gedanke in ihren Kopf, ein einzelnes Wort: Lo’ihi . Der unterseeische Vulkan – warum war sie da nicht gleich darauf gekommen? »Am besten, wir fahren erst mal ein Stück weit raus und dann die Küste entlang nach Süden, Richtung Lo’ihi. Dabei können wir ja die Augen offen halten, ob wir irgendwas Verdächtiges sehen.«
»Na denn«, brummte Jonah Simmonds und stapfte los, um die Dieselmotoren auf Touren zu bringen.
Ungefähr gegen zwei Uhr nachts wurde Leon klar, dass sie nicht vorhatten, ihn schlafen zu lassen. Sein Körper fühlte sich noch immer zerschlagen an, und nun waren auch noch seine Augenlider so schwer, dass es ihm kaum mehr gelang, sie offen zu halten. Einmal sank ihm das Kinn auf die Brust und beinahe wäre er vom Stuhl gefallen. Konzentrieren konnte er sich längst nicht mehr, und die Fragen, die ihm gestellt wurden, kamen nicht mehr wirklich in seinem Inneren an.
Nur noch die Rogers war hier, Tim war irgendwann rausgegangen und nicht zurückgekommen. Wahrscheinlich gönnte er sich jetzt ein paar Stunden Ruhe! Noch immer konnte Leon nicht fassen, wie sehr ihn Tim verraten hatte, er versuchte, den Gedanken nicht zu nah an sich heranzulassen. Sonst war alles aus, sonst hatte er nicht mehr die Kraft, sich zu wehren. Und warum hatte Tim die Frage nach seinen Eltern nicht beantwortet? Das ging ihm nicht aus dem Kopf.
Leons Blick irrte über Fabienne Rogers’ Gesicht – das fahle Licht der Bordbeleuchtung ließ die schlaffe Haut ihrer Wangen unter dem Make-up hervortreten, betonte die Falten ihres Halses, der Leon an eine Galapagos-Schildkröte erinnerte, und schien den letzten Rest Farbe aus ihren blassblauen Augen zu saugen. Ihr Lippenstift war in die winzigen Fältchen rund um ihre Lippen eingesickert und bildete dort feine rote Linien.
»Falls ihr keine Koje frei habt, dann geben Sie mir einfach eine Decke und ich schlafe auf dem Boden!«, brüllte Leon sie an. Doch er wusste sowieso schon, wie die Antwort lauten würde. »Tut mir leid, wir sind noch nicht fertig, ich fürchte, es wird ein bisschen spät heute.« Fabienne Rogers’ seidener Trainingsanzug raschelte, als sie die Beine übereinanderschlug und die Hände mit den Handflächen nach unten auf die Knie legte. »Hast du inzwischen über die Frage der Energiegewinnung nachgedacht? Wenn du willst, zeigen wir dir die Bohrung – wir haben ein Tauchboot hier. Es ist uns wirklich wichtig, dich von unserem Projekt zu überzeugen.«
»Mrs Rogers«, fragte Leon verzweifelt und versuchte, irgendwie die Augen offen zu halten. »Warum bin ich Ihnen so wichtig, dass Sie mich in all das einweihen? Was haben Sie in mir gesehen, damals?«
Ihre Blicke trafen sich und einen Moment lang zögerte Fabienne Rogers. Als sie antwortete, war ihre
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