Ruf Der Tiefe
Lucy zurück. Kein Fressen für Kawon. Zu flink! Anscheinend musste sie beim Thema Fressen noch an etwas anderes denken, denn er spürte, wie ihre Stimmung sich verdüsterte. Shola schwimmt so nah, sehr nah! Sie schickt starke Klicks! Ich habe Angst, großviel Angst!
Kann ich verstehen. Leon runzelte die Stirn. Ich werde Billie sagen, dass sie strenger mit Shola sein soll. Es geht nicht, dass sie dich belästigt.
Das Pottwalweibchen schaffte es nur mit Mühe, Lucy nicht als Beute zu betrachten – Kalmare und Kraken waren ihre Lieblingsspeise. Bisher hatte es erstaunlich wenig Ärger gegeben, da Lucy einen Ortungs-Chip trug, dessen Signale Shola wahrnehmen konnte. Tödliche Verwechslungen waren ausgeschlossen. Aber es sah so aus, als sei Shola zurzeit schwer in Versuchung. Mit ihren Klicks und deren Echo konnte sie Objekte orten, aber auch Beutetiere betäuben.
Jemand kommt , warnte ihn Lucy plötzlich, und tatsächlich, schon öffnete sich das Schott. Wie praktisch, dass Lucy so gute Augen hatte. Und sie spürte – obwohl sie keine Ohren hatte – die Vibrationen von Schritten in der Station.
Leons Puls beschleunigte sich, als er das Mädchen von der Oberfläche erkannte. Carima. Er war noch nicht sicher, was er von ihr halten sollte. Dass er sie vorhin verteidigt hatte, als die Neckerei der anderen allmählich gemein wurde, war mehr ein Reflex gewesen. Er ertrug es einfach nicht, wenn jemand gehänselt wurde – von wem auch immer und so witzig es auch wirken mochte.
Langsam kam Carima näher, und Leon bemerkte zum ersten Mal, dass sie leicht hinkte. Irgendetwas war mit ihrem linken Bein los. Doch er hatte nicht vor, sie danach zu fragen.
Immerhin, sie zuckte nicht zurück, als sie Lucy sah. Und auch Lucy war Fremden gegenüber nicht besonders scheu, neugierig ringelte sie Carima die Spitzen ihrer Arme entgegen und tastete über das Glas im vergeblichen Versuch, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Riechschmecken durchs Fenster geht nicht , beschwerte sie sich und lugte mit ihren kleinen Augen, deren Pupillen horizontale Balken waren, ins Innere der Station. Wer ist das?
»Was für Augen«, sagte Carima. »Wie ein Wesen aus dem Weltraum sieht sie aus.«
Sie heißt Carima und ist zu Besuch hier , erklärte Leon seiner Krake und suchte gleichzeitig nach Worten, um Carima zu antworten – witzigen, interessanten Worten. Doch zwei Unterhaltungen gleichzeitig zu führen war einfach zu viel und schließlich stammelte er nur: »Ja, irgendwie schon.« Wahrscheinlich wirkte er gerade wie ein kompletter Idiot. Ausgerechnet vor diesem selbstsicheren Mädchen.
Was sagt sie?, drängte Lucy und Leon übersetzte es ihr. Prompt musste er erklären, was genau der Weltraum war.
Sag ihr, rauskommen soll sie, zusammen schwimmen wir, wies ihn Lucy an.
Leon seufzte und tat, wie ihm geheißen. »Sie hätte gerne, dass du rauskommst und mit ihr schwimmst – aber das geht wegen des Tauchverbots natürlich nicht«, sagte er und wagte einen kurzen Seitenblick auf Carima. Sie beobachtete Lucy fasziniert durch das Sichtfenster und Leon begann sich wieder etwas zu entspannen. »Für Kraken ist der Tast- und Geschmackssinn sehr wichtig«, fuhr er fort. »Wenn sie dich kennenlernen wollen, klettern sie auf dir herum und schmecken dich mit ihren Saugnäpfen.«
Carima lachte auf. »Prüfen sie dabei auch gleich, ob jemand fressbar ist?«
»Im Prinzip schon«, sagte Leon, doch als Carima sich ihm zuwandte und er ihren Gesichtsausdruck sah, sprach er hastig weiter. »Aber keine Sorge, Kraken sind für Menschen nicht gefährlich. Es kann höchstens vorkommen, dass sie einem Taucher unabsichtlich das Mundstück rausziehen oder so. Und als Lucy klein war, hat sie mal einen meiner Ausbilder gebissen. Ist aber seither nicht mehr passiert.«
»Gebissen?!«
»Ja. Kraken haben einen Schnabel. Sieht aus wie der von einem Papagei. Das ist eine praktische Sache, um die Schalen von Krebsen zu knacken.«
»Aha. Und was ist passiert, als sie den Typen gebissen hat? War der Finger ab?«
»Quatsch. Er hatte nur einen blauen Fleck. Damals war Lucy ausgebreitet noch nicht mal so groß wie ein Regenschirm.« Leon erwähnte nicht, dass es gut gewesen war, dass der Biss damals nicht durch die Haut gegangen war – der Speichel von Kraken war giftig. Sie nutzten das Gift, um das Fleisch ihrer Beute zu verflüssigen und anschließend mit ihrer Raspelzunge aus Schale oder Panzer herauszuschlecken. Nein, das erzählte er ihr lieber nicht, das klang wie aus einem
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