Ruf Der Tiefe
…«
Sechs Seestern-Arme, Module genannt, hatte Benthos II – so viel wusste Carima inzwischen. Also waren zwei davon noch nicht gesichert. Um Himmels willen, wie lange dauerte das denn noch? Und jetzt blinkte auf einem der Monitore auch noch eine Fehlermeldung auf.
»Schott 5-B in Modul 5 blockiert, ich wiederhole, Schott 5-B nicht geschlossen!«
Über die Bord-Sprechanlage scholl ein Strom deftiger Flüche mit australischem Akzent. Paula.
Ein heftiger Ruck ging durch die Station, dann noch einer. Carima verlor den Halt und fand sich in einer Teelache auf dem Boden wieder. Ein Laptop stürzte ihr entgegen, traf sie schmerzhaft am Oberschenkel, rutschte auf dem Boden weiter und knallte gegen eine Metallwand. Unterlagen, Speichersticks, ein Handfunkgerät und eine Packung Taschentücher wirbelten durch die Luft.
Auf einen Schlag wurde es dunkel und Alarmsirenen kreischten durch die Benthos II. Jemand fluchte, aufgeregte Stimmen redeten durcheinander, Billie, McCraddy, Urs. Jemand trat beim Vorbeihasten auf Carimas Hand. Vor Schmerz schossen ihr Tränen in die Augen. Warum musste das mit dem Seebeben ausgerechnet in der kurzen Zeit passieren – zwei lächerliche Tage! –, die sie hier unten war? Würde sie jetzt sterben? Nein, nein, das konnte nicht sein!
Wieder Paulas Stimme: »Matti, wir haben einen Wassereinbruch im Lagermodul, Raum 3!«
»Verdammt. Und ist Schott 5-B jetzt endlich zu?«
»Nein, das Ding klemmt immer noch. Wenn wir in dem Bereich ein Leck haben, müssen wir evakuieren.«
Ein Wassereinbruch? Und das in der Tiefsee, wo ein unvorstellbarer Druck auf der Station lastete! Die große Plexiglaskuppel, die sich über der Messe wölbte, fiel Carima wieder ein. Oh Gott, diese Kuppel! Wenn sie aus irgendeinem Grund einen Riss bekam, dann war vermutlich alles aus.
Die Messe! Carima dachte an ihre Mutter und plötzliche Panik überkam sie. War Nathalie noch in der Küche? Die lag direkt neben der Messe, war sie dort überhaupt sicher? Hatte ihre Mutter das Seebeben rechtzeitig bemerkt, war sie irgendwohin geflüchtet? Ein Schluchzen stieg in Carima auf, doch sie unterdrückte es und begann stattdessen instinktiv auf Händen und Knien in Richtung der Tür zu krabbeln, die zur Messe führte. Aber ihre Finger stießen nur auf kalten Stahl, das Schott.
Eine schwache blaugrüne Notbeleuchtung glomm auf, Carima sah wieder etwas. Auch das Vibrieren hatte aufgehört. Carima blickte sich um und erschrak unwillkürlich. Jemand hockte keine zwei Handlängen vor ihr und blickte ihr ins Gesicht. Leon!
»Carima«, sagte er hastig. »Bist du verletzt?«
Ihre Hände waren zerschnitten von Glasscherben auf dem Boden, und ihr Oberschenkel schmerzte dort, wo der Laptop sie getroffen hatte. Auch ihr linkes Bein, das schlechte, aus dem die Ärzte erst vor einem halben Jahr ziemlich viele Metallstifte rausgeholt hatten, tat weh. Doch Carima schüttelte den Kopf. »Nein, alles in Ordnung.«
In diesem Licht erschienen Leons Augen fast schwarz. »Hör zu. Paula und ich, wir gehen gleich raus, um das Leck von außen abzudichten. Alles halb so schlimm, okay?«
»Meine Mutter! Sie ist noch in der Küche.«
»Kein Problem. Wie es aussieht, ist nur ein Teil des Lagers geflutet.«
Ausgerechnet das Lager. Womöglich genau der Raum, in dem sie sich gestern versteckt hatte, in dem sie geredet hatten. Wie nur hatte Leon wissen können, was für eine Gefahr der Benthos II drohte? Er hatte es als Erster gemerkt – und anscheinend nicht zum ersten Mal, denn Kovaleinen hatte seine Warnung nicht infrage gestellt, keine Sekunde lang! Carima öffnete den Mund, doch Leon kam ihr zuvor.
»Falls wir uns nicht mehr sehen, dann wollte ich dir nur noch sagen …« Er stockte, wandte den Kopf; jetzt hörte Carima es auch, der Kommandant der Station rief nach ihm. Hastig sagte Leon: »Pass auf dich auf, okay?« Einen Moment lang lag seine Hand auf ihrer Schulter, eine flüchtige Berührung, die auf ihrer Haut zu brennen schien. Dann stand er auf und wandte sich Kovaleinen zu. Leon besprach sich kurz mit ihm und verschwand dann durch das Schott zur Hauptschleuse, das sich hinter ihm wieder schloss.
Carima brachte kein Wort heraus. Falls wir uns nicht mehr sehen … was sollte das heißen? Heiße Angst stieg in ihr auf. Rechnete Leon etwa damit, dass er nicht zurückkommen könnte?
Eine Hand streckte sich ihr entgegen und Carima ergriff sie mechanisch, ließ sich hochziehen. Es war Patrick. »Hab eben mit Kovaleinen geredet«, brummte er.
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