Ruf Der Tiefe
ein Computer lieh ihm ja seine Stimme, während er die OxySkin trug. Doch er brachte kein Wort heraus, zu deutlich konnte er in ihren Augen sehen, wie fremd er ihr jetzt war. Vielleicht hätte ein einfaches »Hallo« gereicht, den Bann zu brechen … aber dann war Carima schon wieder weg, ihre Mutter hatte sie fortgezerrt.
In seiner Magengrube war ein dumpfer Druck. Leon bemühte sich, ihn zu ignorieren, und vollendete seine letzten Checks. Paula war schon in der Schleuse und winkte ihm ungeduldig mit der Greifhand, nachzukommen; in der anderen trug sie das Werkzeug, das sie fürs Unterwasserschweißen brauchte. Leon nickte, zog seine Flossen an und schlurfte ihr hinterher. An Land war er in voller Ausrüstung etwa so elegant wie ein Pinguin auf dem Eis. Doch kaum hatte sich die Schleuse mit Wasser gefüllt – er spürte es als angenehm kühlen Schwall –, war seine Stunde gekommen. Er schwebte wieder. Von einem Moment auf den anderen war er völlig ruhig, wie von selbst fokussierte sich sein Geist. In der Schwerelosigkeit des Wassers rollte er sich zusammen, spannte seine Muskeln an … und als die äußere Schleusentür aufging, stieß er sich ab und schoss mit kraftvollen Flossenschlägen ins offene Meer hinaus. Endlich, endlich wieder frei!
Leon drehte eine Pirouette, um einen Blick auf die Umgebung zu werfen, dann ließ er Paula hinter sich und jagte voran in Richtung des beschädigten Lagermoduls. Er spürte, dass Lucy neben ihm schwamm, elegant wie eine Tänzerin, und einen Moment lang fühlte er sich mit allem in Einklang. Mit sich, der Welt, mit Lucy. So fühlte sich Glück an, so und nicht anders!
Zwanzig Meter weiter rauschte die Marlin mit laut summenden Elektromotoren vorbei und zog nach oben. Dem fernen Himmel entgegen, an den man hier unten manchmal nur mit Mühe glauben konnte.
Sprachlos
Wie sich herausstellte, war die Station nur leicht angeschlagen – schon nach einem Tag hatten Paula und Louie das Leck abgedichtet, das Lager wieder freigepumpt und alle anderen Schäden beseitigt. Ein großer Teil der Ausrüstung, der unter Wasser gesetzt worden war, hatte das kalte Bad unbeschadet überstanden. Auch an der Oberfläche, auf den Inseln, waren nur geringe Schäden durch das Beben gemeldet worden.
Und doch wollte das schlechte Gefühl Leon nicht verlassen. Ein Seebeben – ausgerechnet jetzt, wo das Meer verrückt zu spielen schien? Wie hing das alles zusammen? Er war nicht der Einzige, den das beschäftigte, die Wissenschaftler der Station arbeiteten inzwischen rund um die Uhr; ständig waren sie mit dem kleinen Tauchboot der Station, der Cisco , unterwegs. Auch die Gleiter und beide Tauchroboter waren im Einsatz. Julian, Tom und er waren oft im Wasser, um zu helfen – Matti Kovaleinen hatte das Tauchverbot vorübergehend aufgehoben.
Trotz all dieser Geschäftigkeit fühlte Leon eine Leere in sich, die nichts füllen konnte, und selbst seine Freude darüber, wieder im Meer sein zu können, verflog bald. Lucy mühte sich, ihn aufzuheitern.
Komm, Seegurken necken , schlug sie vor. Manche Arten dieser trägen schlauchartigen Wesen, die überall in der Tiefsee über den Sand- und Schlammboden krochen, begannen zu leuchten, wenn man sie anstupste.
Nein danke , schickte Leon schlecht gelaunt zurück. Seegurken, das sind doch nur Müllschlucker – lassen wir sie einfach ihren Job machen .
Ein Seufzer wehte durch seine Gedanken. Du vermisst sie?
Wen? Billie? In einer Woche ist sie doch wieder hier.
Mein Freund, du weißt wen. Vor dir selbst verstecken ist nicht gut.
Okay. Ja. Lucy hatte recht. Er konnte genauso gut zugeben, dass Carima ihm fehlte. Es schien unmöglich, seine Gedanken an sie in den Griff zu bekommen, und das irritierte ihn. Was war eigentlich mit ihm los?
So viele Fragen in seinem Inneren, es wurden immer mehr. Wie sehr hatte es sie schockiert, ihn in der OxySkin zu sehen? War sie gut angekommen an der Oberfläche, was machte sie jetzt? Wie dachte sie über ihre Zeit an Bord von Benthos II, war sie froh, dass sie dem kalten Keller der Ozeane entkommen war? Wann würde sie nach Deutschland zurückfliegen? Und wie lange würde es dauern, bis sie ihn vergessen hatte?
Erst als Lucy seine Hilfe brauchte, schaffte es Leon, sich zusammenzureißen. Wieder einmal stand die »Prozedur« an, eine tierärztliche Untersuchung, die seine Partnerin nur mit großem Widerwillen über sich ergehen ließ. Auch diesmal war es höllisch schwer, sie überhaupt durch die kleine Schleuse des
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